Der Beitrag Fritz Eberhard erschien zuerst auf Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft.
]]>Geboren in Dresden als Hellmut von Rauschenplat. Aufgewachsen in Baden-Baden. 1914 bis 1920 Studium in Göttingen, Frankfurt/Main und Tübingen, unterbrochen von einer Einberufung. 1920 Promotion bei Robert Wilbrandt. Funktionär in linkssozialistischen Organisationen, Eintritt in die SPD. 1925 Parteiausschluss. Redakteur bei Der Funke, einer Tageszeitung des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK). 1933 illegaler Widerstand. 1937 Emigration (über Paris nach London). Redakteur und Sprecher beim MI5-Radiosender Europäische Revolution und Mitarbeit beim deutschen Dienst der BBC. Nach der Rückkehr Beteiligung am Wiederaufbau der SPD und Kommentare für Radio Stuttgart. 1946 dort Landtagsabgeordneter und kurz Staatssekretär. 1948/49 Mitglied im Parlamentarischen Rat. 1949 bis 1958 Intendant des Süddeutschen Rundfunks (SDR). 1956 ARD-Vorsitzender. 1960 Honorarprofessor an der FU Berlin, später kommissarischer Lehrstuhlinhaber sowie Institutsleiter und auch nach der regulären Besetzung des Lehrstuhls 1968 bis kurz vor seinem Tod Teil des Lehrkörpers. Zweimal verheiratet. Gestorben in Berlin.
Fritz Eberhard zählt zu den Leuchttürmen der Publizistikwissenschaft und war maßgeblich an der Konsolidierung der Disziplin nach dem Zweiten Weltkrieg beteiligt. Als Intendant des SDR brachte er ab 1950 in Kooperation mit dem Institut für Demoskopie Allensbach die systematische und kontinuierliche Publikumsforschung auf den Weg (vgl. Eberhard 1962, Meyen 2001: 59-70) und half dann in Westberlin nicht nur Elisabeth Noelle-Neumann bei den ersten Schritten in die Fachgemeinschaft, sondern sorgte nach dem Abschied von Emil Dovifat mit hohem persönlichen Einsatz für institutionelle Kontinuität und eine inhaltliche Neuausrichtung, für die unter anderem die Namen Hans Bohrmann, Jörg Aufermann, Elisabeth Löckenhoff, Kurt Koszyk und Gernot Wersig stehen.
Da das politische, publizistische und akademische Leben Eberhards den Rahmen eines Lexikonartikels sprengt, hat sich BlexKom entschieden, in der Rubrik “Fachgeschichte” einen ausführlichen wissenschaftsbiografischen Beitrag aus der Feder von Hans Bohrmann zu veröffentlichen (vgl. Bohrmann 2022) und diesen Eintrag knapp zu halten. Bohrmann kennt Fritz Eberhard aus persönlicher Zusammenarbeit und hat außerdem zahlreiche Archivquellen und Zeitzeugenaussagen nutzen können. In diesem Beitrag, der Eberhards Leben mit der Zeit- und Fachgeschichte verlinkt, finden sich neben weiterführenden Literaturangaben auch zahlreiche Hinweise auf Sekundärquellen.
Michael Meyen: Fritz Eberhard. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2022. http://blexkom.halemverlag.de/fritz-eberhard/ (Datum des Zugriffs).
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]]>Fritz Eberhard hat nach seinem Studium während der Weimarer Republik als Heimvolkshochschullehrer (Ökonomie) und Politiker (Internationaler Sozialistischer Kampfbund) gearbeitet. Im Nationalsozialismus ging er in den Untergrund, um diese Arbeit fortzusetzen, und wurde 1937 in die Emigration gezwungen (Großbritannien). Dort arbeitet er mit der britischen Kriegspropaganda zusammen (Untergrundsender „Europäische Revolution“, Deutscher Dienst BBC) und wirkte als Buchautor und Journalist. 1945 kam er rasch in die amerikanische Zone Deutschlands zurück, trat in die SPD ein und wurde Landtagsabgeordneter, war Mitglied des Parlamentarischen Rates und wurde 1949 zum Intendanten des Süddeutschen Rundfunks (Stuttgart) gewählt. Mehrfach wiedergewählt, schied er 1958 aus (Nachfolger: Hans Bausch). In seiner letzten Arbeitsphase ging er als Honorarprofessor an die Freie Universität Berlin (Publizistik), wo er von 1961 bis 1968 das Fach festigen konnte (zuletzt als Lehrstuhlvertreter). Nachfolger wurde Harry Pross.
Fitz Eberhard (geboren am 2. Oktober 1894 in Dresden als Hellmut von Rauschenplat, gestorben am 30. März 1982 in Berlin) war das uneheliche Kind einer Hofdame des Sächsischen Königshofes, die daraufhin ihren Arbeitsplatz verlassen musste. Aufgewachsen ist er in Baden-Baden, wo er auch das Gymnasium besuchte und das Abitur bestand. Einer seiner Lehrer führte ihn in Karl Marx‘ Gesellschaftsanalyse ein, was Eberhard lebenslang prägte. Eberhard studierte in Göttingen, Frankfurt/Main und Tübingen, vorwiegend Volkswirtschaft. Das Studium (1914-1920) wurde unterbrochen von der Einberufung in den Ersten Weltkrieg. An der Universität Göttingen traf er den Philosophen Leonard Nelson, dessen Internationaler Sozialistischer Jugendbund (IJB) mit seiner Ausrichtung auf praktische, politische Arbeit für eine bessere Gesellschaft ihn beeindruckte. Nelsons Philosophie kam von Immanuel Kant her, und vertrat einen ethischen Sozialismus – nicht marxistischer Art. An der neu gegründeten Universität in Frankfurt/Main hörte Eberhard u.a. bei Franz Oppenheimer, dessen sozialreformerischer Elan sich in soziologischer Perspektive mit dem Genossenschaftsgedanken auseinandersetzte. Auch Oppenheimer verstand sich als liberaler Sozialist. Der sich anschließende Universitätswechsel nach Tübingen brachte eine Vertiefung der genossenschaftlichen Gedanken durch Robert Wilbrandt, der den nationalstaatlich verfassten Kapitalismus ergänzen bzw. ablösen wollte. Bei ihm promovierte Eberhard mit einer Dissertation „Über den Luxus“ (1920, ungedruckt), in der er ökonomische Folgerungen aus dem Weltkrieg suchte. Auch Wilbrandt verstand sich als Sozialist und Eberhards Plädoyer gegen den Luxus, das sich mit Blick auf die durch den Krieg vernichteten Werte für ihn quasi von selbst verstand, dürfte Wilbrandts Vorstellungen nahegestanden haben. Eberhard hat in einem Artikel in der Frankfurter Zeitung (10. März 1920) seine Dissertation öffentlich interpretiert.
Nun folgte eine kurze Zeit des Atemholens. Eberhard ist in kleineren, mitteldeutschen Betrieben im Rechnungswesen tätig. Er heiratet eine Ärztin (Dr. Martha Walter). 1922 trat er in Nelsons Bund ein. Von da an galt seine Arbeit vor allem dem Ziel, Geld für die politische Bildungsarbeit des IJB, aus dem sich der Internationale Sozialistischen Kampfbund (ISK) als politische Partei entwickelte, zu verdienen. Und er passte sich den lebensreformerischen Grundsätzen Nelsons an, d.h. er löste seine Ehe, trat aus der evangelischen Kirche aus, wurde Vegetarier, rauchte nicht und trank keinen Alkohol mehr. Der ISK war Eberhards Lebensinhalt geworden und man geht kaum fehl in der Annahme, dass diese Entscheidung die lange erwogene Konsequenz aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges und der Studienzeit war. Nelsons Anhänger wussten, dass ihre Normen nur von wenigen geteilt wurden, die sich ohne Abstriche der politischen Arbeit widmeten. Um ihre politische Wirksamkeit zu verstärken, traten Nelsons Jünger in die SPD ein. Mit seinen niedersächsischen IJB-Freunden wurde auch Eberhard bald Funktionär der Jungsozialisten. 1925 wurde er mit diesen jedoch aus der SPD ausgeschlossen, weil die Gruppenbildung sich wohl schwerlich in die Parteiarbeit integrieren ließ. Fortan politisch auf sich gestellt, intensivierte der ISK seine Bildungsarbeit und trat in Wahlen, ohne große Erfolge, als eigenständige Partei an. In der Heimvolkshochschule Walkemühle bei Melsungen wurde Eberhard als Lehrer für die ökonomische Bildung zuständig. Nelson, dessen Gesundheit bereits länger fragil war, starb 1927. Sein Nachfolger wurde sein Sekretär Willi Eichler.
Als sich die Kabinette der Weimarer Republik 1930, mit dem Rücktritt des Reichskanzlers Hermann Müller (SPD), dauerhaft nur noch auf die schwankende Loyalität des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg stützten, warf der ISK alles Geld und Personal zusammen und ging nach Berlin, wo sich die Aktivitäten um die Tageszeitung Der Funke gruppierten. Bei der Titelwahl ist es sicher kein Zufall, dass es sich um die deutsche Übersetzung von Lenins Parteiblatt Iskra handelt. Die zugrunde liegenden Analysen der gesellschaftlichen Verhältnisse ähnelten sich sehr, wenn auch der ISK sich als Organisation deutlich von der KPD als Teil der Kommunistischen Internationale abgrenzte und gerade nicht auf eine marxistische Revolution setzte.
Eberhard war als Redakteur beim Funke(n) für die Wirtschaftspolitik zuständig, und eine Helferin, die er dort für den Journalismus anlernte, war die Österreicherin Inge Meisel. Die Zeitung blieb auflagenschwach und war wirtschaftlich ein Zuschussgeschäft. Der ISK machte sich keine Illusionen über Deutschlands politische Zukunft, die ganz klar von der NSDAP geprägt werden würde. Man bereitete sich auf die Abschaffung der Demokratie und die polizeistaatliche Verfolgung aller Demokraten vor. Das faschistische Italien war ein sichtbares Vorbild. Die ISK-Mitglieder wurden nach dem Fünfer-Modell geordnet. Jedes Mitglied arbeitete örtlich politisch lediglich mit vier anderen Mitgliedern zusammen, kannte möglichst keine weiteren Mitglieder, die woanders im Reich tätig waren. Der Vorstand sollte arbeitsfähig bleiben. Er ging nach der sogenannten „Machtergreifung“ am 30. Januar 1933 nach Paris in die Emigration. Das vorhandene Geld der Partei wurde, mithilfe von Fritz Eberhard, illegal aus Deutschland herausgebracht. Durch eine theoretische Zeitschrift, die in Paris gedruckt wurde, gab es für ISK-Mitglieder weiter Analyse und Anleitung. Die Sozialistische Warte wurde mithilfe der „Internationalen Transportarbeitergewerkschaft“ in Hitlers Reich per Eisenbahn und Schiff eingeschleust. Die Inlandsleitung des ISK, die die Gruppen vor Ort regelmäßig aufsuchte, stellte die Verbindung untereinander und mit dem Vorstand in Paris her. Die Grenze nach Frankreich querte Eberhard quasi routinemäßig und versah dabei auch Botendienste, etwa indem er Ernst Fraenkels Manuskript des „Doppelstaat“ mitnahm. Er kannte Fraenkel als Justiziar des Metallarbeiterverbandes aus Berlin. Das Zusammenspiel von Normenstaat herkömmlicher Art mit dem diktatorischen Maßnahmenstaat hatte er selbst beobachten können. Und er hat Fraenkel als Ordinarius für Politikwissenschaft an der FU Berlin erneut getroffen, wo dieser als Dekan der Philosophischen Fakultät die Ernennung von Fritz Eberhard förderte.
Eberhard hat beschrieben, dass unter den erschwerten Bedingungen des gleichgeschalteten Staates zunächst die Betriebe von ISK-Mitgliedern weiterliefen und auch noch Geld einbrachten. In Hannover gab es eine Brotfabrik; es gab vegetarische Gaststätten (u.a. in Berlin). Die Betriebe wurden als wenig auffällige Treffpunkte genutzt und konnten Ausgangspunkt für illegale Aktionen (etwa Anbringung von Anti-NSDAP-Parolen auf Bahnsteigen) sein. Eberhard selbst schrieb unter mehreren Pseudonymen (Fritz Dreher, Fritz Werkmann, F. Kempf, Fritz Werkmann, Hans Schneider, von Brockhus, Mutmacher) ökonomische Analysen für kleine Zeitschriften, die (unerkannt) oppositionellen Zielen nahestanden. Sie sollten darüber aufklären, dass der Wirtschaftsaufschwung im NS-Staat hauptsächlich durch Aufrüstung zu erklären war. Nach den Olympischen Spielen 1936 wurde die politische Verfolgung solcher oppositionellen Aktivitäten durch die Gestapo verstärkt. Die kleinen ISK-Gruppen mussten sich ruhiger verhalten. 1937 erhielt Eberhard den vertraulichen Hinweis, dass man ihm auf der Spur sei. Er nahm den Wink ernst und schlug sich wiederum über die grüne Grenze durch, über die Schweiz nach Paris. Es ist nicht zu entscheiden, wie die in Paris versammelten ISK-Mitglieder mit ihrem Vorstand diskutierten. Deutlich ist, dass eine Gruppe, die die direkte Aktion in Deutschland wollte, denen unterlag, die Abwarten, so schwer es fiel, für politisch eher geraten hielten. Dabei spielte wohl eine Rolle, ob ein Fanal, wie ein Attentat auf Hitler (wozu Eberhard bereit gewesen sein soll), angesichts der im Reich fortgeschrittenen polizeistaatlich erzeugten Ruhe Aussicht auf folgende spontane Aufstände hätte haben können. Voraussetzung war auch die Bejahung einer Zusammenarbeit mit den angloamerikanischen Geheimdiensten, um eine Bewaffnung zu sichern.
Eberhard zog es weiter nach England, wo er sich in London wieder mit dem ISK-Vorstand zusammenfand. Heftige Zerwürfnisse sind für die politische deutsche Emigration durchaus charakteristisch und können als ein Reflex der fremdbestimmten, um nicht zu sagen unfreien Lage, in der man sich befand, gedeutet werden. Im Falle des ISK kam es in London zu einer Entscheidung: Hans Lehnert, Inge Meisel und Fritz Eberhard traten aus dem ISK aus. Lehnert, der nach einer Verhaftung in Norddeutschland freigekommen und knapp dem NS-Staat entronnen war, flüchtete nach England und ging von dort in die Schweiz, wo er interniert wurde. Eberhard und Meisel zogen in London in eine Wohnung und bekundeten auch damit die nunmehrige Distanz zu den ISK-Werten. Als politische Emigranten aus dem nationalsozialistischen Deutschland hatten sich für beide augenblicklich in England alle Perspektiven verändert. Emigranten wurden im Allgemeinen bestimmten Wohnorten zugewiesen. Sie bekamen, vor allem zu Anfang, keine Arbeitserlaubnis, waren also auf Zuwendungen von mildtätigen Organisationen angewiesen. Von offiziellen Stellen wurden die Emigranten misstrauisch beobachtet, weil sie immer zugleich in Verdacht standen, mit der Nazi-Seite heimlich in Kontakt zu stehen. Von der Botschaft des NS-Staates in London (die seit der Einverleibung Österreichs 1938 auch für Meisel zuständig war) wurden sie, wenn immer möglich, überwacht. Wenn ihre Pässe abliefen, mussten sie immer überlegen, ob sie den Status als staatenloser Ausländer in England einer Verlängerung durch die deutsche Botschaft vorziehen wollten. Als Emigrant durfte man nicht politisch tätig sein und sich nicht ohne Erlaubnis in Organisationen zusammenschließen. Auch private Kontakte nach Deutschland wurden praktisch unmöglich, weil sie von deutscher Seite wenn möglich überwacht und von englischer Seite natürlich misstrauisch beäugt wurden. In Kriegszeiten waren zudem die Postdienste abgebrochen. Das bedeutete, dass Informationen aus Deutschland außerhalb von offiziellen Quellen nur tröpfchenweise ankamen. Unter solchen Bedingungen den Versuch zu unternehmen, die ISK-Gruppen in Deutschland irgendwie informiert zu halten, war schwierig; die deutsche Öffentlichkeit zu erreichen, eigentlich unmöglich.
Fritz Eberhard, der sich auf Englisch geläufig verständigen konnte, versuchte, wie später auch der ISK-Vorstand, Kontakte zur Labour Party aufzubauen. Dabei ging es darum, sich politisch informiert zu halten und so weit wie irgend möglich die deutsche Perspektive der Emigration in England erkennbar werden zu lassen, zumal in der Kriegskoalition in London auch die Labour Party beteiligt war. Für Fritz Eberhard waren diesen Verbindungen so fest, dass sie bis in die mittlere Nachkriegszeit reichten. Er hatte Briefwechsel mit britischen Kabinettsmitgliedern auch in den 1960er Jahren.
Neuen Spielraum gab der Kontakt zu Sefton Delmer und dessen Mitarbeitern beim britischen Geheimdienst MI5. Eberhard wirkte an dessen Radiosender „Europäische Revolution“ als Redakteur und Sprecher mit. Gesendet wurde in deutscher Sprache, vorgeblich als deutscher Untergrundsender, der sein Programm tatsächlich von einer Kanalinsel ausstrahlte. Die Absicht war, die Besatzungssoldaten in Frankreich und in Benelux, womöglich auch in Deutschland zu erreichen. Eberhard wirkte auch während des Zweiten Weltkrieges am deutschen Dienst der BBC als Sprecher und als Kommentator mit, wenn auch die Identität der deutschen Mitwirkenden nicht aufgedeckt wurde und die politischen Botschaften mit den britischen Intentionen übereinstimmen mussten. Wegen der Zusammenarbeit mit der britischen Regierung wurden Fritz Eberhard und seine engeren politischen Freunde zu Beginn des Zweiten Weltkrieges weder in Großbritannien interniert noch in Commonwealth-Länder in Übersee gebracht (wie beispielsweise der Jurist und spätere deutsche Soziologe und Kommunikationswissenschaftler Alphons Silbermann, der nach Australien verschifft wurde; die beiden haben sich in der britischen Emigration nicht kennengelernt).
Eberhard wurde auch eine gewisse politische Arbeit mit gewerkschaftlicher Basis gestattet. Er konnte sich mit anderen Emigranten aus Europa austauschen, eine Zeitschrift in deutscher Sprache herausbringen und, je deutlicher sich die Niederlage im Zweiten Weltkrieg abzeichnete, auch Pläne diskutieren, wie das Erziehungswesen demokratisch neu aufgebaut werden sollte. In diesen Gruppen traf Eberhard u.a. auf den Sozialdemokraten Fritz Borinski, der später an der FU Berlin als Ordinarius Für Erwachsenenbildung wirkte und Eberhard nach seiner Ernennung zum Honorarprofessor für Publizistik begrüßen konnte.
In den gewerkschaftlichen Diskussionsgruppen in England wurden Entscheidungen zur parteipolitischen Neuorientierung vorbereitet, die auch die Mitglieder des ISK betrafen. Die Idee war als Schlussfolgerung aus der Zersplitterung der Linken in der Weimarer Zeit, die Mehrheits-SPD durch den Beitritt zu stärken. So haben sich auch die aus England überwiegend zurückgekehrten politischen Emigranten verhalten. Willy Eichler etwa hat im Parteivorstand der SPD mitgearbeitet und ist einer der wichtigsten Mitautoren des Godesberger Programms geworden, das in der Relativierung der marxistischen Anfänge der SPD auch deutliche Zeichen des Nelsonschen Denkens enthält.
Hellmut von Rauschenplat (Fritz Eberhard) hatte in der zweiten Hälfte des Zweiten Weltkrieges in England auch die Chance, zusammen mit Hilde Meisel (Monte) seine politischen Ideen in Publikationen eines englischen Verlags zu veröffentlichen. Das waren ISK-Themen: „How to Conquer Hitler” (1940) und „Help Germany to Revolt!” (1942). Die Autoren wollten die britische Öffentlichkeit für die Politik einer sozialistischen Umgestaltung Deutschlands gewinnen und als Vorstufe dazu die deutschen Arbeiter zur Sabotage der totalen Kriegsführung veranlassen. Als Hebel dazu sollten die ISK-Gruppen vor allem in Süddeutschland dienen, die von der Gestapo nicht ausgehoben worden waren. Ziel war eine durchgängige Demokratisierung der Gesellschaft, die die durchaus wirksamen Reste feudaler Macht (ostelbische Grundbesitzer) beseitigt und in der Wirtschaft die Gewerkschaften als Gegenmacht des Kapitals stärkt.
Zur konkreten Umsetzung dieser Absichten gab es zum Ende des Krieges auch Möglichkeiten, mithilfe der britischen und US-amerikanischen Geheimdienste ISK-Mitglieder über die Schweiz illegal nach Deutschland zu senden. Dabei sollten Informationen aus erster Hand gesammelt werden. Bei einem solchen Unternehmen ist Hilda Monte (Meisel) im April 1945 nach dem Übertritt über die Grenze von der Schweiz ins ehemalige Österreich erschossen worden.
Als sich nach der endlichen Kapitulation Hitler-Deutschlands für die Emigranten eine Perspektive auf Rückkehr eröffnete, zeigte sich die britische Militär(besatzungs)-Verwaltung, die vor allem den Nordwesten Deutschlands erhalten hatte, zunächst wenig offen. Sie hielt nichts von deren unmittelbarer Rückkehr nach Deutschland. Eberhard aktivierte deshalb seine Beziehungen zu den Amerikanern und es gelang ihm, mit einer US-Militärmaschine in die amerikanische Zone zu gelangen und als Teil der Militäradministration in Stuttgart Fuß zu fassen.
Voraussetzung für diese Rückkehr war, dass für einen Personal- und Dienstausweis endgültig sein Name geklärt wurde. Die Amerikaner wollten möglichen Werwolf-Aktivitäten die Spitze abbrechen und wünschten, dass der Baron von Rauschenplat einen unverfänglichen bürgerlichen Namen wählte. So kam Fritz Eberhard, was als Nom de Plume schon im Widerstand Freunden bekannt war, auch offiziell in den Pass. Eberhard hat besonders den Vornamen nicht geliebt und stets mit „F.” abgekürzt.
In Stuttgart arbeitete Eberhard als Programmberater (Kontroller) im neu gegründeten amerikanischen Sender „Radio Stuttgart“, wo er auch Kommentare sprach. Er beteiligte sich am Wiederaufbau der Sozialdemokratischen Partei, die von den Nationalsozialisten 1933 aufgelöst worden war, und am Wiederaufbau der ebenfalls 1933 verbotenen Gewerkschaften, wie bereits im Exil vorgeplant. Eberhard berichtete regelmäßig über die Fortschritte bei der Organisationsentwicklung an Vertrauensleute der internationalen Gewerkschaftsbewegung.
Carlo Schmid bereitete in derselben Zeit mit Zustimmung der amerikanischen Besatzungsmacht eine Verfassung für einen Südweststaat vor. Eberhard dürfte schon damals mit ihm bekannt geworden sein, ohne dass beide eine feste Parteifreundschaft schlossen. Das galt auch für den aus Karlsruhe stammenden späteren Bundesfinanzminister in der Regierung Brandt, Alex Möller, der von 1951 an den Vorsitz im Verwaltungsrat des Süddeutschen Rundfunks (SDR) innehatte. Dieser war 1948 als deutsche Rundfunkeinrichtung auf den Stuttgarter Besatzungssender gefolgt, um den östlichen Teil des entstehenden Bundeslandes Baden-Württemberg zu versorgen. Der westliche Teil wurde durch den Südwestfunk (SWF) mit Sitz in Baden-Baden abgedeckt. Im Unterschied zu allen anderen westlichen Bundesländern wurde der Südwesten mit zwei öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten versehen, deren Intendanten unterschiedlichen Parteien angehörten. Enge Kontakte behielt Eberhard mit SPD-Abgeordneten, gerade aus dem Stuttgarter Raum, so beispielsweise mit Erwin K. Schoettle, den er bereits aus der Londoner Emigration kannte.
Eberhard wurde für die SPD in den ersten Stuttgarter Landtag 1946 aufgestellt und gewählt. Die konstituierende Sitzung erfolgt noch im Dezember 1946. Im Anschluss an die Konferenz der deutschen Ministerpräsidenten (1947), die nach dem Auszug der ostdeutschen Amtsträger als gescheitert galt, genehmigte die amerikanische Besatzungsregierung den Landesregierungen ihrer Besatzungszone die Einrichtung eines „Büros für Friedensfragen“ mit Sitz in Stuttgart. Diese Dokumentationsbehörde sollte Vorarbeiten für einen etwaigen Friedensvertrag leisten. Zum Leiter dieser kurzlebigen Einrichtung (April 1947 bis Dezember 1948) wurde, im Rang eines Staatssekretärs, Fritz Eberhard ernannt. Seine gute Kenntnis der angloamerikanischen Politik (in Großbritannien gab es eine Labour-Regierung, in den USA war der Demokrat Truman Präsident) haben ihm dabei sicher geholfen.
Fritz Eberhard heiratete 1947 Elisabeth Küstermeier (geb. Schaaf). Diese hatte im deutschen Widerstand an der Rettung von Juden durch das Beschaffen von Ausreisepapieren in katholischen Institutionen mitgearbeitet. Für beide war es die zweite Ehe.
Von Dezember 1948 bis Mai 1949 gehörte Fritz Eberhard zu den 65 stimmberechtigten Mitgliedern des Parlamentarischen Rates, die mit Zustimmung der drei westlichen Alliierten eine Verfassung für einen Weststaat ausarbeiten sollten, welche dann am 23. Mai 1949 in Bonn verkündet wurde. Dabei engagierte sich Eberhard stark bei der Einarbeitung der Regelung zur Kriegsdienstverweigerung in die vorläufige Verfassung.
Als die Intendanz des SDR nach zwei Rücktritten 1949 geregelt werden musste, entschloss sich Fritz Eberhard zur Bewerbung und wurde vom Rundfunkrat, der in Stuttgart damals noch stark von sogenannten „grauen“ (d.h. nicht parteigebundenen) Mitgliedern getragen war, gewählt. Er trat als Intendant zum 1. September 1949 an. Und es gelang ihm, den neuen Sender, der weder private Firma (wie in der Weimarer Republik) noch staatliche Instanz (wie im NS-Staat) war, als sich selbst verwaltende Institution zu festigen und als Teil der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten (ARD) zu öffentlichem Ansehen zu führen. 1956 war er Vorsitzender der ARD.
In die Intendanz Fritz Eberhards fiel die Entscheidung über die Errichtung des Fernsehturms auf dem Killesberg, die ein finanzieller Kraftakt war, aber ein wichtiges Zeichen für den Stuttgarter Rundfunk in der Öffentlichkeit darstellte. In Eberhards Intendanz fiel ebenso der Aufbau einer Fernsehabteilung (ab 1952/53), die am Gemeinschaftsprogramm der ARD (1. Deutsches Fernsehen) einen beachtlichen Anteil einbrachte. Durch die Stuttgarter Schule der Fernsehdokumentation erlangte der Sender ARD-weit Aufmerksamkeit. Fritz Eberhard zog begabte und leistungswillige Rundfunk- und Fernsehjournalisten heran, denen er die nötige Freiheit gab, Programme zu gestalten, sodass sie langfristig in der Einrichtung blieben. Da sich Eberhard intensiv ums Programm des Senders kümmerte, wurde er auch mit Programmentscheidungen identifiziert und in Konflikte in der Öffentlichkeit bis in den Rundfunkrat hineingezogen. Weil er seine Position in diesen Konflikten durchsetzen konnte und mehrfach wiedergewählt wurde, glaubte er auch am 31. August 1958 an seine erneute Bestätigung durch den Rundfunkrat. Dieser wählte aber mit knapper Mehrheit den Rundfunkjournalisten und CDU-Politiker Hans Bausch zu seinem Nachfolger. Eberhard hatte wohl den Trend zur Koordinierung von Landespolitik und Rundfunkpolitik unter CDU-Fahnen unterschätzt, worauf die Wahlergebnisse nicht nur im Bund, sondern auch im Südwesten hindeuteten.
Auf den nahenden Ruhestand mochte sich Fritz Eberhard nicht einlassen. Wie zahlreiche Altersgenossen, die in die Emigration gedrängt wurden, hatte auch er den Eindruck, dass sein Lebensziel mit dem 65. Lebensjahr noch nicht erreicht sei. Vielmehr trieb Eberhard ein Projekt voran, das ihn schon länger beschäftigte. Es ging um die wissenschaftliche Durchleuchtung des Rundfunk-Programms mithilfe der Umfrageforschung. Er war überzeugt, dass die fatale Hinwendung zu Hitler Ende der Weimarer Republik abgewendet werden hätte können, wenn seinerzeit repräsentative Umfrageergebnisse zeitnah zur Verfügung gestanden hätten, und dass sich Umfragen zum Programm positiv auf die Arbeit von Journalisten auswirken könnten. Deshalb hatte er im SDR psychologische Untersuchungen zur Wirkung von Sendungen in Auftrag gegeben. In den letzten Jahren seiner Intendanz hatte er Elisabeth Noelle-Neumann mit dem Allensbacher Institut vermehrt herangezogen, weil dieses sich nach Qualität und Quantität seiner Forschungsergebnisse nicht nur für den NWDR in Hamburg hervorgetan hatte. Noelle-Neumann lud Eberhard ein, in der Allensbacher Bibliothek zu forschen und eine Summe dessen zu ziehen, was Umfrageforschung für das Programm zu leisten vermochte. So entstand in den kommenden Jahren ein umfangreicher Forschungsbericht, der 1962 in einer von Eberhard gegründeten Schriftenreihe erschien. In dem Buch wurden die Techniken der Umfrageforschung und vor allem an Beispielen aus dem Programm des SDR die Reaktionen des Publikums verdeutlicht. Dass die Umfrageforschung in ihren Ergebnissen als angewendete Sozialtechnik auch strittig war, diskutierte er weniger. Das konnten die Studenten der FU in der Politikwissenschaft bei Ernst Fraenkel und Kurt Sontheimer oder in der Soziologie bei Ludwig von Friedeburg und Hans-Joachim Lieber lernen.
Als Eberhard Ende 1960 als Honorarprofessor an die FU Berlin berufen wurde, war das ein inneruniversitärer Vorgang, denn die öffentlich-rechtlich organisierte FU konnte Ernennungen, die nicht auf Beamtenpositionen erfolgten, in eigener Verantwortung wahrnehmen. Wenn es zugleich um die Leitung eines Instituts und in der Perspektive um die Vertretung eines Lehrstuhls ging, bedurfte das allerdings der Mitwirkung des Senators für Volksbildung, Joachim Tiburtius (CDU), der in der großen Koalition der Landesregierung schon mehrere Legislaturperioden für die FU zuständig war. Dabei lag auf der Hand, dass Eberhards Ernennung kaum den Beifall Emil Dovifats finden konnte. Zu groß waren die Divergenzen zwischen dem vom katholischen Zentrum stammenden Dovifat, der während der gesamten Nazi-Zeit, wenn auch nicht immer unangefochten, Leiter des Deutschen Instituts für Zeitungskunde (später Zeitungswissenschaft) der Friedrich-Wilhelms-Universität geblieben und in Berlin Mitgründer der CDU war, und dem aus der evangelischen Kirche ausgetretenen, aus NS-Deutschland emigrierten und in der Bundesrepublik stets zur SPD gehörigen Eberhard. Dennoch wurde Eberhard ernannt und gehörte auch nach der ordentlichen Besetzung des Lehrstuhls (1968) weiter dem Lehrkörper des Instituts an. Er hielt Vorlesungen und Seminare und prüfte Studenten bis zum Wintersemester 1981/82, kurz vor seinem Tode.
Die Ernennung rief anfangs in Teilen der gedruckten Öffentlichkeit kritische Reaktionen hervor. Einige Vertriebenenorganisationen wärmten ihre Erzählungen von der „vaterlandsfeindlichen Emigration“ wieder auf und der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) reihte sich in den Kritikerchor ein, indem er dem „Rundfunkmann“ Eberhard Zeitungsfremdheit vorwarf. Die Fakultät wies diese jenseits aller Sachlichkeit liegenden Argumente deutlich zurück und dürfte sich in der Wahl nur bestärkt gesehen haben. Dass mit Fritz Eberhard der erste Sozialdemokrat ein großes Institut für Publizistik leiten sollte, stand bei den Kritikern im Hintergrund ihrer Urteilsbildung, wurde aber nicht ausgesprochen. Eberhard bekam einen guten Eindruck davon, wie politisch jede Ernennung an der FU Berlin in jenen Jahren aufgenommen wurde und wie jede seiner Entscheidungen grundsätzlich unter Kritik gestellt wurde. Daran wird er auch gedacht haben, als er einen Brief seines Göttinger Kollegen Wilmont Haacke erhielt, der ihm in dem durch führende Fachvertreter katholisch geprägten Fach seinerseits eine evangelische Allianz vorschlug. Auf solche Diskussionen ließ sich Fritz Eberhard aber nicht ein.
In seinen Thesen zur Publizistikwissenschaft schlug Eberhard ganz neue Töne an: Was gelten sollte, war der durch empirische Sozialforschung bestätigte Befund. Dahinter stand die Ideenwelt von Karl Popper: Johannes Wenzler (1968) hat über den „publizistischen Prozess“ mit Fritz Eberhard geforscht, Werner Meffert (1967) hat gezeigt, wie Inhaltsanalyse in Eberhards Perspektive aussieht, und Robert Peck hat in seiner Analyse der Nachrichtenagenturen zur Berlin-Krise (1967) ebenso gezeigt, wie man mit dem Eberhardschen Instrumentarium umgehen konnte. Es war aufwendig und griff auf die empirische Soziologie zurück. Im Mittelpunkt stand die Inhaltsanalyse als kleinteilige Beschreibung der empirischen Realität. Damit glaubte Eberhard näher an die Wirklichkeit heranzukommen, als es mit der philologischen Beschreibung durch Dovifat möglich war. Der Emeritus antwortete rasch und verwies auf die Ergebnisse seiner Forschungen. Im Rückblick scheinen die Positionen näher beieinanderzuliegen, als sie damals auch von Studentenseite aufgefasst wurden.
Der Umfang der alltäglichen Herausforderung in der Führung des Instituts war enorm. Die Lehrtätigkeit, die Anfang der 1960er Jahre bei vier Semesterwochenstunden lag und Eberhard mit einer zweistündigen Vorlesung, einem Oberseminar und einem Examenskolloquium leicht erreichen konnte, war nur das eine, daneben forderte das ständige Inganghalten der Verwaltung eine fast täglich Anwesenheit. Ob das mit den zunächst 500 Mark monatlich, quasi als Aufwandsentschädigung, abgegolten werden konnte, kann man getrost bezweifeln. Eberhard krempelte die Ärmel hoch und packte die Probleme mit allen Statusgruppen an. Im Mitarbeiterkreis hatte er seine Tätigkeit zurückhaltend als „Generalsekretär des Instituts“ beschrieben. Er konnte sich aber nur auf ein gutes halbes Dutzend Mitarbeiter stützen, darunter bloß einen festangestellten Akademiker und dann zwei Assistenten, also befristet Beschäftigte. Die anderen hatten Semesterverträge, waren halbtags angestellt (Hiwis bzw. Hilfswillige, wie es im Militärjargon hieß), die zwar verlängert werden konnten, aber nicht mittelfristig einplanbar waren, denn sie waren in der Regel Doktoranden. Es gelang während Eberhards Direktorat nicht, eine Ausweitung des Stellenplans zu erreichen. Zur Entlastung wurden allenfalls Mittel zur weiteren Beschäftigung von Hiwis bewilligt.
Der Inhaber der Akademischen Ratsstelle war unter dem Institutsleiter Eberhard stets Geschäftsführender Assistent. Zu Beginn war das Günter Kieslich, nach dessen schnellem Ausscheiden dann Elisabeth Löckenhoff, die im Laufe der Semester engste Vertraute des Institutsdirektors wurde.
Solange Fritz Eberhard das Institut leitete respektive später den Lehrstuhl kommissarisch wahrnahm, hatten seine Mitarbeiter die Sorge, ob er der Belastung gesundheitlich würde standhalten können. Eberhard war Frühaufsteher und musste oft zusätzlich Abendtermine einplanen. Er lebte seit seiner ISK-Zeit gesundheitsbewusst, auch wenn er die strikte Abstinenz zugunsten eines gelegentlichen Glases Wein durchbrach. Aber während der Vorlesungszeit blieb ihm kaum Zeit zum Lesen, was angesichts seines späten Eintritts in das Fach auch von ihm gewünscht wurde.
In der Folge der Semester war Eberhard als einziger Prüfer des Fachs immer häufiger für Magisterarbeiten und Dissertationen gefragt. Weil diese Beratungstätigkeiten zunahmen, hat er den Kandidateninnen und Kandidaten anheimgestellt, sich von ihnen selbst gewählten Mitarbeitern beraten zu lassen. Diese schrieben für die eingereichten Arbeiten auch Vorgutachten für den Lehrstuhlvertreter. Das Verfahren belastete am meisten Elisabeth Löckenhoff, zugewandt, kenntnisreich (sie war nach der Promotion bei Dovifat seit 1954 in verschiedenen Positionen im Institut beschäftigt) und unbestechlich.
Rückschläge, wie sie sich bei der Besetzung des Ordinariats zwangsläufig einstellten, führten zu Enttäuschungen, die angesichts des Zeitdrucks kaum zu kompensieren waren. Die Mitarbeiter sicherten Eberhards Mittagsschlaf, der auf den unbequem übers Eck aufgestellten und von Dovifat übernommenen Polstermöbeln stattfand und nach präzisen 30 Minuten wieder beendet wurde. Sie suchten ihm so viel abzunehmen, wie möglich war, und hofften aufs jeweilige Frühjahr, wenn Fritz Eberhard wie üblich zur Kur zum Buchinger (Heilfasten) nach Überlingen ging und nach einem Monat quasi „runderneuert“ zurückkam.
In den ersten Jahren von Eberhards Direktorat hielt der Emeritus Dovifat (gestorben 1969) noch Vorlesungen ab und betreute Examenskandidaten, was eine Entlastung bedeutete. Außerdem bestand für das Institut die Möglichkeit, die Lehre durch Gastdozenten (Elisabeth Noelle-Neumann, Kurt Koszyk, Harry Pross, nacheinander, meist für zwei Semester) auszuweiten und durch Lehrbeauftragte (u. a. C. Wolfgang Müller) zu ergänzen, um das inhaltliche Angebot zu verbessern und die Veranstaltungen in der Größe einigermaßen arbeitsfähig zu halten. Die Finanzierung war schwierig (insbesondere für An- und Abreisekosten der Lehrenden), ließ sich aber in den ersten Jahren aus Mitteln des nicht besetzten Ordinariats stemmen. Gastvorträge kamen hinzu (u.a. Hilda Himmelweit, Hertha Sturm), um den Studenten die Breite des fachlichen Angebots nahezubringen und das Institut wieder in die Fachdiskussion einzubinden. Dazu dienten auch Gastvorträge im Rahmen des Berufungsverfahrens für die ordentliche Besetzung der Professur (u.a. Gerhard Maletzke, Winfried B. Lerg, Franz Ronneberger, Martin Irle), das Eberhard als Fachvertreter voranzutreiben gehalten war. Diese wurden aus anderen Töpfen bezahlt. Der Zeitdruck, der in der Endphase von Dovifats Institutsleitung in der Berufungskommission entstand und zur Berufung eines Honorarprofessors als Zwischenlösung geführt hatte, sollte diesmal vermieden werden. Sicher ist, dass die Zeit seinerzeit drängte, weil eine letztmalige Verlängerung des seit 1955 emeritierten Emil Dovifat Ende des Jahres 1960 auslief. Denkbarerweise hat der seinerzeitige Dekan der Philosophischen Fakultät, der Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel, der auch berlinpolitisch durchaus einflussreich und mit Eberhard bekannt war, eine Vermittlerrolle gespielt. Sicher ist, dass der Soziologe Hans Joachim Lieber das Manuskript Eberhards zu „Der Rundfunkhörer und sein Programm“ geprüft hat.
Verbindungen persönlicher Art zu den Mitarbeitern des Instituts gab es keine. Ungewiss ist, ob Fritz Eberhard über konkrete Informationen zum Fach an der FU Berlin verfügte, die ihm eine Abschätzung des erforderlichen persönlichen Zeitaufwandes ermöglicht hätten. Das ging weit über die zweistündige Lehrverpflichtung hinaus, die von einem Honorarprofessor verlangt wurde. Sicher ist, dass er im ersten (halben) Semester von Januar bis März 1961 die Fronten kennenlernte, an denen er gefordert war. Ebenso sicher ist, dass er diese Herausforderungen annahm und vor allem während der Vorlesungszeiten in Vollzeit für das Institut arbeitete. Zunächst ging es darum, das Fach so zu positionieren, dass es von einer möglichst breiten Mehrheit in der Fakultät unterstützt wurde. Eberhard nahm die Fakultätssitzungen wahr, in denen er Sitz und Stimme hatte. Es gelang ihm rasch persönliche und fachliche Koalitionen zu schließen, was für ein sogenanntes „kleines Fach“ , das üblicherweise nur einen Hochschullehrer besaß, überlebenswichtig war, vor allem wenn durch drastisch ansteigende Studentenzahlen die Lehrveranstaltungen deutlich überfüllt waren und das akademische Personal und die zur Verfügung stehenden Räume sowie die Sachmittel nicht mitwuchsen. Anfangs gab es 150 Hauptfachstudenten und (geschätzt, weil damals noch nicht gezählt) 1500 Nebenfachstudenten der Publizistik.
Fritz Eberhard hat sich durch Referate jeweils am Dies Academicus beteiligt, um das Fach auch nach außen zur Geltung zu bringen, er ließ sich zum Mitglied des Vorstands in der Deutschen Gesellschaft für Publizistik wählen und er wurde Vertrauensdozent der Stiftung Mitbestimmung der Gewerkschaften, die seinerzeit auch Promotionsstipendien der Stiftung VW mitvergab, und konnte dadurch etlichen Studenten der FU, nicht nur des eigenen Fachs, zu einem finanziell weniger sorgenvollen Abschluss verhelfen.
In der Fakultät verfolgt Fritz Eberhard den Plan, seine Gastdozentin Elisabeth Noelle-Neumann, die bei Emil Dovifat zu Kriegszeiten promoviert worden war, zur Honorarprofessorin an der FU zu machen, um sie mit ihren langjährigen Lehrveranstaltungen zur Einführung in die Techniken der Umfrageforschung ans Institut zu binden. Da versagte ihm die Fakultät aber die Gefolgschaft. Kritiker der Umfrageforschung wie Ernst Fraenkel, Kurt Sontheimer und Ludwig von Friedeburg stimmten 1963 dagegen.
Mit seinem Vorschlag, Kurt Koszyk für Publizistik zu habilitieren, hatte Fritz Eberhard hingegen Erfolg. 1969 wurde damit nach 1949 die erste Habilitation im Fach Publizistik an der FU Berlin erfolgreich abgeschlossen. Unmittelbar anschließend aber griff die Düsseldorfer Hochschulpolitik zu und berief Kurt Koszyk an die Universität Bochum. Deshalb hat Koszyk an der FU zwar vor seinem Habilitationsverfahren als Gastdozent gelehrt, aber nicht mehr als Privatdozent nach der Habilitation, und auch für eine mögliche Berufung kam er so nicht mehr unmittelbar infrage.
Eberhard konnte als Mitveranstalter in seinen Oberseminaren den Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel und die Soziologin Renate Mayntz gewinnen. Der Psychologe Klaus Holzkamp bot fachnahe Lehrveranstaltungen am Institut an. Ferner gelang es mehrfach, den Politikwissenschaftler Hans-Joachim Winkler für die Veranstaltung von Seminaren ans Institut zu holen. Dadurch wurde das Fach auch neu profiliert, denn durch die Nebenfächer einer Studentenmehrheit hatten bislang Theaterwissenschaft und Germanistik vorgeherrscht.
Rasch mussten aber auch andere Entscheidungen getroffen werden, die die Publikationspolitik angingen. Die vielbenutzten Nachschlagewerke „Deutsche Presse“ und zuletzt zur Weltpresse, die thematisch an die Handbücher des Instituts für Zeitungswissenschaft der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin von 1929 bis 1944 anknüpften, wurden in der Herausgeberschaft von Emil Dovifat gerade abgeschlossen und Folgeauflagen waren gegebenenfalls zu planen. Eberhard entschloss sich, diese Handbucharbeit nicht weiter zu betreiben, da sie sich mithilfe der angebotenen Drittmittel nicht vernünftig finanzieren ließen. Das Handbuch Die Deutsche Presse erschien 1961 letztmalig, das Auslandspresse-Handbuch wanderte an das Münsteraner Institut für Publizistik ab. Eberhard eröffnete eine wissenschaftliche Schriftenreihe, die es bislang nicht gab und mit der er den der FU nahestehenden Colloquium Verlag betraute. Neben wissenschaftlichen Texten der Mitarbeiter des Instituts ging es ihm dabei um Lehrbücher wie eine Geschichte der deutschen Presse, für die er die Dortmunder Autoren Margot Lindemann und Kurt Koszyk gewinnen konnte. Eberhard griff auch die aus der Studentenschaft kommende Anregung auf, in einem aktuellen Dokumentationsdienst die unselbstständig erschiene internationale Fachliteratur vor allem des angloamerikanischen Bereichs für Recherchen greifbar zu machen (Redakteure: Jörg Aufermann und Gernot Wersig). Der Dienst erschien zunächst im Westdeutschen Verlag, später bei K.G. Saur. Damit verbunden war eine Umorientierung der Institutsbibliothek, die nun auch die angloamerikanische Literatur und Periodika bieten sollte. Für die Umstellung und Nachkäufe wurden Drittmittel eingeworben.
Getrieben durch die steigenden Studentenzahlen waren die Institutsräume im Henry-Ford-Bau der FU bald zu klein, zudem wurden sie zur Erweiterung der Universitätsbibliothek gebraucht. Eberhard gelang es zum Ende seiner Amtszeit, die Anmietung einer größeren Villa am Roseneck für das Institut zugewiesen zu bekommen und damit einige Zeit die Raumproblem zu lösen.
Fritz Eberhard und seine Mitarbeiter waren in mehreren Diskussionsrunden übereingekommen, die Lehre nicht nur durch Gastdozenten und Lehrbeauftragte zu erweitern, sondern auch Anforderungen für Seminarscheine festzuschreiben. Jeder Teilnehmer sollte eine Seminararbeit abliefern; jede Seminararbeit sollte mit dem Autor bzw. der Autorin besprochen und benotet werden. Das galt für Proseminare, die sogenannten „Mittelseminare“ und das Oberseminar gleichermaßen. Für Examenskandidaten war die Teilnahme an einem Examenskandidatenkolloquium verpflichtend. Dahinter stand die Überlegung, dass nur durch eine Stärkung der Lehre auf Dauer das Fach erhalten und mit Aussicht auf habilitierten Nachwuchs gefestigt werden könne. Fritz Eberhard hatte bei seiner Ernennung auch den Wunsch der Fakultät mit auf den Weg bekommen, die Anzahl der Dissertationen deutlich zu senken und deren Qualität zu steigern. Die Studiendauer sollte gesenkt und die Zahl der Studienabbrecher verringert werden. Mittel der Wahl sollte der Studienabschluss mittlerer Ebene zum Magister Artium sein, den die FU bereits 1957 eingeführt hatte.
Aber nicht nur aufseiten der Universität gab es Kritiker der Publizistik als journalistischer Vorbildung, wie sie vom Fach seit Dovifat immer propagiert worden war. Eberhard, der die verbreitete Ansicht, man solle eher ein Sachfach für den Journalismus studieren, auch literarisch vertreten hatte, änderte nach seiner Hinwendung zur FU die Meinung. Dass in der journalistischen Praxis und bei den Verlegern weiter anders gedacht wurde, habe ich selbst bei einem Interview mit dem Geschäftsführer des BDZV, Egon Freiherr von Mauchenheim (1961), erfahren können, der nichts von einer akademischen Ausbildung, zumal in der Publizistik, hielt und dabei Dovifat als überholt ablehnte. An solchen Urteilen musste sich Fritz Eberhard auch abarbeiten. Er hat bei Zeitungsverlagen, zu denen er Zugang hatte, und bei Rundfunkanstalten immer und recht erfolgreich um Volontariate für seine Studenten geworben, damit gleichermaßen die akademische und die journalistisch-praktische Ausbildung seiner Studenten gefördert werden konnte.
In den Augen der Fakultät sollte die wesentliche Aufgabe des Interims für Fritz Eberhard sein, die ordentliche Besetzung des Ordinariats zu erreichen, was angesichts des bundesweiten Nachwuchsmangels im Fach deutlich der schwierigste Wunsch war. Ähnliche Besetzungsprobleme hatten praktisch gleichzeitig die Universitäten in München und Münster (Westfalen), wo neben der FU Berlin die größten Fachinstitute bestanden. Eine Berufungskommission an der FU hatte nach Dovifats Emeritierung 1955 jahrelang ohne greifbares Ergebnis getagt, weil es keine habilitierten Bewerber gab und man sich auf Nicht-Habilitierte, beispielsweise Journalisten, nicht einigen konnte. Nun wurde eine neue Berufungskommission gebildet, der auch Fritz Eberhard angehörte. Die erste Möglichkeit bestand in der Habilitation von Günter Kieslich, den Dovifat von der Universität Münster 1958 auf eine neu eingerichtete Akademische Ratsstelle (Dauerstelle im Mittelbau) verpflichten konnte und der bereits aus Westfalen das Manuskript einer Habilitationsschrift mitgebracht hatte. Das erledigte sich allerdings rasch, denn die Habilitationskommission ließ den von Dovifat vorgeschlagenen Kandidaten nicht zum weiteren Verfahren zu, weil sie bereits die Schrift als unzureichend ablehnte. Da dieser Fehlschlag schon der zweite im Fach war (1958 war bereits die Habilitation von Dovifats Assistenten Fritz Medebach gescheitert), war sich die Fakultät offenbar nicht mehr sicher, ob sie die Stelle wirklich besetzen konnte, was konkret hieß, ob das Fach haltbar war. Die kommenden Semester waren durch die Bemühung von Fritz Eberhard und der Kommission geprägt, auch in Nachbarfächern Bewerber zu finden, die sich eine wissenschaftliche Zukunft in Lehre und Forschung zu den Massenmedien vorstellen konnten.
Ergebnis dieser Bemühungen war ein Ruf auf das Ordinariat für Publizistik an den Psychologen an der Universität Mannheim, Martin Irle. Der Vorschlag kam vom FU-Psychologen Hans Hörmann, der Mitglied der Berufungskommission war. Er stellte auch die Kontakte her. Beide hatten Psychologie in Göttingen studiert und sich vorgenommen, bei Gelegenheit an einer Hochschule gemeinsam zu forschen und zu lehren. Dieser Ruf „primo et unico“ führte allerdings nach ersten Verhandlungen an der FU zur Ablehnung durch den Kandidaten, sei es, weil die Bedingungen an der FU nicht attraktiv waren, oder, weil die Universität Mannheim in den Bleibeverhandlungen erfolgreicher war. Der nächste Anlauf der Berufungskommission führte zu der Alternative Thomas Ellwein, der als Politikwissenschaftler renommiert war, und Harry Pross, der als Zeitschriftenjournalist und seinerzeit als Chefredakteur von Radio Bremen in der Bundesrepublik einen Ruf besaß. Harry Pross war auch einige Semester Gastdozent am Institut für Publizistik der FU. Da beide Kandidaten wohl geneigt waren, sich nach Berlin-West berufen zu lassen, aber nicht über eine akademische Habilitation verfügten, kam die Fakultät auf die Idee, sie zu einem Kolloquium zu einem selbstgewählten Thema einzuladen. Zu diesem Verfahren wurden in begrenztem Maße auch Studenten der Publizistik zugelassen, zu denen ich gehörte. In der nachfolgenden Abstimmung (an der die Studenten nicht teilnahmen) hat das Plenum der Fakultät für Harry Pross gestimmt, der 1968 zum Nachfolger des Lehrstuhlvertreters Fritz Eberhard berufen wurde.
Mit der planmäßigen Besetzung des Lehrstuhls für Publizistik endete Fritz Eberhards Mitgliedschaft in der Philosophischen Fakultät. Er hätte sich als Nichtordinarienvertreter in der Fakultät wählen lassen können, verzichtete aber angesichts seines Lebensalters auf eine solche Kandidatur. Neben der akademischen Lehre, die ihm als Honorarprofessor mit allen Rechten freistand, weitete er seine Vortragstätigkeit aus. Es ging ihm vor allem um die Gewährleistung der Meinungsfreiheit nach dem Grundgesetz. Er trat auch als Gutachter für Fritz Teufel wegen der Beteiligung an dem sogenannten „Pudding-Attentat“ vor einem Berliner Gericht als Entlastungszeuge auf. Teufel hatte einige Semester Publizistik studiert und war Eberhard als Student bekannt. Eberhard engagierte sich weiter auf dem linken Flügel der Westberliner SPD und machte seinen Einfluss geltend, die Krisen um die studentischen Hausbesetzer u.a. in Kreuzberg friedlich zu schlichten. Im Herbst 1985 versuchte er einen Gesprächstermin mit mir zu verabreden, da er zu einer Diskussion in die Dortmunder Sozialakademie eingeladen worden war. Ein Treffen kam wegen Terminkollisionen nicht zustande. Nach dem Tod von Fritz Eberhard am 29. März 1986 habe ich das lange bereut.
In seinen letzten Lebensjahren hat sich Eberhard wieder an die Gedanken Leonard Nelsons und des IJB angenähert und in diesem Sinne seine Erinnerungen an seine Kollegin Minna Specht niedergeschrieben. Eberhard ahnte wohl in den Tagen vor seinem Tod, dass sein Leben zu Ende gehen würde, und hat sich von manchen Wegbegleitern telefonisch verabschiedet. U.a. mit Elisabeth Löckenhoff führte er ein längeres Gespräch, wie mir diese berichtet hat.
Fritz Eberhard ist auf dem Zehlendorfer Waldfriedhof begraben worden, nicht weit von seinem Wohnhaus entfernt, eingesegnet von seinem Freund Helmut Gollwitzer (Lehrstuhl für Evangelische Theologie an der FU Berlin), mit dem er gemeinsam manchen politischen Kampf bestanden hatte. Ein Streichquartett der Berliner Philharmoniker spielte Franz Schuberts „Der Tod und das Mädchen“ in allen Sätzen. Die Trauerbeteiligung war groß. Eine Ansprache hielt, als Vertreter des Berliner Senats, Peter Glotz, mit dem Fritz Eberhard zu Lebzeiten immer wieder zusammengekommen war. Sie hatten ähnliche wissenschaftlicher Konzepte und politische Ansichten.
Der Beitrag Hans Bohrmann: Fritz Eberhard erschien zuerst auf Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft.
]]>Der Beitrag Gerhard Vowe: Rückblicke auf Anfänge erschien zuerst auf Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft.
]]>Magnifizenz, Spektabilitäten, Prorectores, Chancellor, vormalige Rektoren und Dekane, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen, Freunde, Brüder und Schwägerinnen, Töchter, Söhne, Schwiegersöhne und Enkel, liebe Beata!
Ein Zehntel der Redezeit für die Ehrerbietung verbraucht, schon erschöpft und nur Unfrieden gesät. Denn fast alle Anwesenden wurden als Gruppe und nicht persönlich begrüßt, wie sie es wahrlich verdient hätten. Sie sehen mich auf den Knien – nein, der Eindruck täuscht, ich stehe noch! Also Sie sehen mich sozusagen auf den Knien als Ausdruck von Dankbarkeit da-für, dass Sie hierhergeeilt sind. Ihre Erwartungen sind hoch, zu Recht: Ich konnte ja fast drei Jahre an dieser Abschiedsvorlesung feilen.
I
Sie steht unter dem Motto: „Rückblicke auf Anfänge“. Es geht um Anfänge wie: „Im Anfang war das Wort“ (1) – der Inbegriff eines Textanfangs. Oder etwas ausladender bei einem späteren Johann: „Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei, Medizin und leider auch Theologie! durchaus studiert, mit heißem Bemühen.“ (2) Oder lakonischer: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben (…), denn ohne, dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ (3) Wie kann man sich jemandem entziehen, der sein Werk beginnt mit: „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen“ (4) – ein Satz, der sogar als Dialogzeile Eingang fand in das Filmepos Once Upon a Time in America (5). Und dieser Titel ist ja selbst ein von uns allen oft gehörter und gesprochener Beginn: „Es war einmal ein Hirtenbüblein.“ oder „In den alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König.“ (6) Solche vertrauten Anfänge werden immer wieder zitiert und karikiert, so auch: „Nennt mich Ismael.“ (7) Punkt, kein Rufzeichen – ja, auch die Interpunktion gehört zum ersten Satz, sogar zu dessen Definition. Denn der erste Satz endet beim ersten Punkt. Und wem partout kein zündender erster Satz einfallen will, der oder die greift zu bewährten Standarderöffnungen wie: „Irgendwo bellte ein Hund.“ Und schon ist Atmosphäre geschaffen, und der Stift fliegt über das Papier.
Jeder Anfang ist ein Vorzeichen. Er signalisiert uns, was wir vom ganzen Text zu erwarten haben: Ist er knapp oder ausladend, prätentiös oder bescheiden, hintergründig oder plakativ, funktional oder ornamental, opak oder transparent, entspannt oder aufgeladen. (8) Es geht also um die ersten Takte, im Jazz der „Head“, das Thema, um das sich das Stück dreht, das Leitmotiv, die Tür, die sich öffnet zum Text oder eben auch nicht. „Der Anfang ist die Hälfte des Ganzen“, wusste Aristoteles – vermutlich aus eigener leidiger Erfahrung. Für den ersten Eindruck gibt es keine zweite Chance. Wer den Einstieg vermasselt, hat es schwer, Zuneigung zu finden. Und umgekehrt: Wer furios einsetzt, muss das Niveau halten, sonst blickt er in enttäuschte Gesichter.
Packende erste Sätze sind kein Privileg von Poeten. Auch Forscher können mit einem Faust-schlag beginnen: „Humans conform.“ (9) Ein Satz, ein Subjekt, ein Prädikat – nicht mehr und alles gesagt. Oder fast ebenso apodiktisch: „Politik ist nicht denkbar ohne Kommunikation.“ (10) Das Spektrum der Ouvertüren ist weit: Manche Wissenschaftler beginnen, indem sie die Leser mit einem jovialen Wir umschlingen, sicherheitshalber doppelt und dreifach: „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch Massenmedien.“ (11) Andere sprechen zu Beginn den Leser direkt an: „Versuchen Sie einmal, irgendeinem Tier im Zoo etwas Einfaches mitzuteilen.“ (12) Wieder andere formulieren ihr Leitmotiv als Frage: „Was ist der Krieg?“ (13) Das sind magische Eröffnungen: Sie bannen auch skeptische Leser, selbst böswillige Reviewer – und damit meine ich selbstverständlich immer auch Leserinnen und Reviewerinnen. Bitte gestatten Sie mir dieses eine Mal noch das generische Maskulinum. Danke!
An Eingangssätzen wie den eben gehörten müssen wir uns alle messen lassen. Und wir haben großen Spielraum bei der Gestaltung unserer ersten Sätze. Für journalistische Texte gibt es Regeln. So ist etwa für einen Bericht geboten, in den ersten Sätzen die fünf W-Fragen zu beantworten. Oder für eine Reportage ist verboten, mit einer Frage zu beginnen, die mit Ja oder Nein beantwortet werden kann. Solche Schranken gibt es nicht für Fachpublikationen. Wir könnten wählen und feilen und greifen dennoch zumeist zu Standarderöffnungen, denen jeglicher Esprit ausgetrieben ist. Sicher: Ein Paper wirbt auch mit Titel, Abstract und Keywords. Aber der erste Satz bleibt der erste Satz und hat auch in wissenschaftlichen Wer-ken äußerste Sorgfalt verdient – beim Schreiben und beim Lesen und beim Lehren und beim Erinnern.
II
Und so wollen wir einmal in den noch verbleibenden exakt 40 Minuten auf einige der ersten Sätze eines hier Anwesenden eingehen, und zwar auf die Entrées des Gerhard Vowe. Wir werden mit gebührender Sorgfalt auf ein Gelehrtenleben in der Nussschale seiner ersten Sätze zurückblicken, wie zum Beispiel auf diesen hier:
„Durch die Verbindung des Fernsprechwählnetzes mit dem Heimfernsehgerät werden neue Telekommunikationsformen … möglich.“ (14)
Ist das nicht eine Idee zu spröde? Mag man da weiterlesen? Man kann, man darf, man soll, mancher muss – aber will man? Wenn so der Ursprung, der Keim aussieht – wie dann erst die ganze Pflanze? Was soll daraus erblühen? Nun haben auch die, die mit dem Vowe´schen Werk nicht ganz so vertraut sind, sofort erkannt: Das muss ein früher Vowe sein. Vielsilbige Nomen wie „Fernsprechwählnetz“ lassen die 1980er erklingen. Man könnte vermuten, Vowe habe sich seinerzeit noch nicht getraut, wollte seinen Start auf der Publikationsbahn nicht gleich mit einem Schuss beginnen. Aber auch der späte Vowe pflegt diese britische Zurückhaltung im Erstkontakt mit dem Leser:
„Medienpolitik ist definiert als die Gesamtheit der kollektiv bindenden Entscheidungen, mit denen die Rahmenbedingungen für mediale öffentliche Kommunikation verändert werden sollen.“ (15)
Wohnt diesem Anfang ein Zauber inne? Wenn, dann sehr gut versteckt. In vielen Ouvertüren auch zu späteren Werken hören wir eher leise Töne, keinen Paukenschlag, bei dem der Leser hochschreckt. Hand aufs Herz! Stockt dieses Herz jemandem von Ihnen, wenn Sie als erstes lesen:
„Der vorliegende Text soll einen Überblick über Struktur und Inhalt der vier Offenen Radiokanäle sowie der drei Offenen Fernsehkanäle in Thüringen geben.“ (16)
Nein, nein, nein, die Hand, die diese erste Seite umschlägt, die zittert nicht. So beginnt kein Pageturner, kein Paradigmenwechsel. Da spürt man wenig Inspiration und viel Transpiration. Aber, großes Aber: Wenn wir tiefer graben im Vowe’schen Oeuvre, dann blitzt es plötzlich hier und da und dort, und wir stoßen auf Diamanten, da funkeln erste Sätze, wie zum Beispiel dieser hier:
„Was auch immer in letzter Zeit politisch für Aufsehen gesorgt hat – Online-Medien spielen dabei eine tragende Rolle, mal mehr, mal weniger offensichtlich.“ (17)
Und was bitte funkelt da? Das ist doch ein normaler nüchterner Vowe-Einstieg! Ja, so scheint es! Noch einmal der entscheidende Passus: „Online-Medien spielen eine tragende Rolle.“ Eine „Rolle“ spielen! Das öffnet ja die Tür in eine andere Welt, in die Welt des Theaters! Und nun sehen wir den Text mit anderen Augen. Wir sehen die Medien auf einer Bühne agieren. DIE Suchmaschine, DER Algorithmus – da entspinnt sich vor unseren Augen und Ohren ein Geschlechterdrama, in dem die beiden Protagonisten ihre tiefsten Gefühle und niedersten Instinkte dem Leser, nein, dem Zuschauer offenlegen. Hier führen Shakespeare und Strindberg die Feder von Vowe! Aus einer Studie, die so beginnt, da wankt der Leser heraus. Und wenn die Mauer zwischen Wissenschaft und darstellender Kunst erst einmal niedergerissen ist, dann sind der Fantasie keine Grenzen mehr gesetzt. Was wäre da alles denkbar? Tragödien, in denen Tik Tok und Twitter einen Kampf auf Leben und Tod führen, Komödien, in denen das Bild dem Text einen Streich nach dem anderen spielt, um die Aufmerksamkeit ins Lotterbett zu ziehen. Da schmunzelt auch der Gutachter. Flammende Agit-Prop-Stücke, in denen Variablen sich ihre Unabhängigkeit erkämpfen und ihre Erklärungskraft demonstrieren. Und die Freunde der Operette und des Varietés kämen in speziellen Fachzeitschriften auf ihre Kosten. So schärft sich der Blick des Lesers, und er macht sich seine ganz eigenen Gedanken, wenn er als Auftakt liest:
„Politische Kommunikation spielt seit jeher eine zentrale Rolle in der politischen Philosophie.“ (18)
Der Leser lässt das Buch sinken und kommt ins Grübeln: die Rolle der Politischen Kommunikation, wie würde man sie besetzen in einem Mysterienspiel, etwa in Salzburg auf den Domtreppen? Mit Veronica Ferres? Oder doch seriöser mit Senta Berger? Ja, wenn Elisabeth Flickenschildt noch lebte – die hätte das Zeug zur Rolle der Politischen Kommunikation! Und wie würde sie wohl die Rolle der Politischen Kommunikation anlegen? Expressiv, anklagend? Oder distanziert, spöttisch? Oder mal ganz anders: verrucht, zynisch?
Und es keimt plötzlich ein Verdacht: Warum ist in Vowes ersten Sätzen so häufig von „Rollen“, von „Auftritten“, von „Inszenierung“ die Rede? Verbirgt sich da vielleicht eine Sehn-sucht? Erlauben die ersten Sätze einen Blick ins Innerste von Vowe? Sieht man darin seinen heimlichen Wunsch, viel lieber Regisseur geworden zu sein? Statt in einer düsteren Studierstube zu hocken, auf dem Set zu stehen, im gleißenden Scheinwerferlicht? Getrieben vom Wunsch, Anderen sagen zu dürfen, wie sie gehen und sprechen und schauen und küssen sollen? Brechen sich heimliche Wünsche Bahn im ersten Satz? Für diese kühne These spricht, dass in seinen ersten Sätzen das „Ich“ konsequent vermieden wird. Ein einziges Mal finden wir das, vor genau 20 Jahren:
„Ich bin weder Jurist noch Ökonom, vielmehr in erster Linie Niederrheiner und damit extra-disziplinär.“ (19)
Launig wird hier ein Ich offenbart, es kommt als Scherz daher – nur dieses eine Mal und sehr entlegen publiziert, von keiner Suchmaschine erreichbar. Da liegt doch nahe: Dieses sorgfältig versteckte Ich verschafft sich anderweitig Gehör.
Eine erste Spur führte zu Vowe als verhindertem Regisseur. Gibt es vielleicht noch andere Spuren zum wahren Vowe, zum echten Gerhard? Ja! Ganz deutlich in diesem ersten Satz:
„Angefangen hat alles vor nunmehr zehn Jahren im Erfurter Café ‚Angermaier‘ mit einer Skizze auf einer Serviette.“ (20)
Für diesen Entrée-Typ gibt es viele Beispiele bei Vowe. Hier noch ein weiteres:
„Einmal im Jahr, immer am 15. April, tritt William Henry Gates III mit seiner Gattin Melinda an seinen Safe in seinem digitalisierten Haus in Seattle und nimmt sein Allerheiligstes her-aus, eine Mappe, etwas größer als A4 mit 18 gefalteten braunen Doppelblättern, beidseitig eng in Spiegelschrift beschrieben, mit vielen Federzeichnungen am Rande.“ (21)
Jetzt möchten Sie vermutlich das erste und das letzte Mal wissen, wie es nach diesem Bandwurm weitergeht, oder? Ich gebe Ihrem Wunsche nach: Es geht um den Codex Leicester, der nach seinen letzten Besitzern eigentlich Codex William and Melinda Gates heißen müsste, eine Handschrift von Leonardo da Vinci, deren Schicksal sich nach der Scheidung der Besitzer im Dunkel verliert. Und einige Zeichnungen darin zeigen Formen von „Regulierung“, worunter im 15. Jahrhundert die Bändigung von Flussgewässern verstanden wurde. Es geht in dem Aufsatz also um den Begriff der Regulierung. Von Leonardo und den Gates‘ zurück zu Vowe: ein halsbrecherischer Abstieg. Steht bei Vowe hinter der Wahl eines solchen szenischen Einstiegs vielleicht der Wunsch nach einer ganz anderen Berufung, nach dem Leben eines rasenden Reporters, eines Reporters ohne Grenzen? Ruhelos auf der Jagd nach dem einzigartigen Augenblick, und den dann für alle Welt und Zeit festhalten! Dafür spricht auch dieser Beginn:
„In einem medienhistorisch beispiellos kurzen Zeitraum hat sich ein breites Spektrum von Online-Medien herausgebildet.“ (22)
Und ähnlich sehen wir auch im folgenden Entrée, wie Vowes Hand den Mantel der Geschichte zu fassen versucht:
„Kein anderer Tag hat die Welt der Gegenwart stärker geprägt als der 11. September 2001.“ (23)
Da holt der Leser tief Luft und ruft aus: „Und ich bin mittenmang! Danke, Vowe, danke!“ Das beflügelt Vowe, denn kein halbes Jahr später beginnt er einen Aufsatz mit:
„Es gibt keine Geste, die dermaßen symbolisch befrachtet ist wie der Händedruck – auch nicht der Kuss oder der Tritt.“ (24)
Wer kann da noch mit der Lektüre aufhören? Niemand! Das ist nicht mehr zu steigern, oder? Doch!
„Vor 350 Jahren erscheint in London ein Buch, in dem der Staat der Moderne entworfen und begründet wird: der Leviathan von Thomas Hobbes.“ (25)
Wieder ein szenischer Einstieg, wie das Präsens signalisiert. Man ist sofort mit beiden Beinen und allen Sinnen im London von 1650. Aber dieser Beginn zeigt noch eine andere Nuan-ce. Hier stellt sich Vowe auf die Schultern eines Riesen, um ein wenig weiter zu sehen und auch um von viel weiter gesehen zu werden. Das macht er gerne, mit Vorliebe erklettert er angelsächsische Geistesriesen:
„Lazarsfeld beeinflusst mit The people’s choice bis heute die wissenschaftliche Diskussion.“ (26)
Und für den gleichen Zweck müssen auch Aphorismen berühmter Menschen als erste Sätze herhalten, wie etwa von Paul Klee: “Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“ (27) Oder von Abraham Maslow: „Wenn Du nur einen Hammer hast, sieht jedes Problem wie ein Nagel aus.” (28)
Das ist im Übrigen immer deutlich als Zitat ausgewiesen, wir sind ja in Düsseldorf in der Philosophischen Fakultät. Manchmal stapelt Vowe auch zwei Riesen übereinander: „Francis Bacon, der Zeitgenosse von Shakespeare, war im Räderwerk des englischen Hofes erst ganz oben und dann ganz unten.“ (29) Auf diesem Doppelriesen kann Vowe noch weiter sehen. Oder er lässt sich von zwei RiesInnen ziehen, wie hier: „Im Anschluss an Elinor Ostrom und an James Buchanan werden Forschungsverbünde als Klubs analysiert.“ (30)
Man ist versucht, in diesem Anfang ein Pendant zum Musenanruf zu Beginn antiker Gesänge zu sehen – eine Art Gebet: „Oh, Elinor, James, gebt mir Kraft für mein Werk!“ Ja, auch bei diesem Typ könnte der Vater des ersten Satzes ein Wunsch sein, und zwar, als Meisterschüler zu gelten – nicht der Meister selbst, aber der, auf dem das Auge des Meisters wohlgefällig ruht und auf den so auch ein wenig mehr Licht fällt.
Eine dunkle Alternative dazu scheint aus diesem ersten Satz zu sprechen: „Die Zahlenfolge 9/11 löst bei den allermeisten Menschen die gleiche Reaktion aus: Sie sehen bestimmte Bilder vor sich.“ (31) Hören wir da nicht jemanden raunen, der bereit ist, sich mit okkulten Kräften zu verbünden? Vowe, der Zauberlehrling? Dieser furchtbare Verdacht wird untermauert durch diesen ersten Satz:
„Beim Wort „Rose“ sehen fast alle Menschen eine rote, langstielige, frisch erblühte Blume vor sich – den Inbegriff der Rose, der alle anderen Varianten in der Vorstellung verdrängt.“ (32)
Hören wir da nicht seine Sehnsucht heraus, Menschen zu manipulieren und das zu können, weil er sie besser kennt als sie sich selbst? Ja, und das gibt auch diesem ersten Satz einen noch tieferen Sinn:
„Jede Weltsicht hat ihr Symbol – ein Emblem wie das Kreuz oder die Faust; eine Metapher wie der ‚Runde Tisch‘ oder der ‚Eiserne Vorhang‘; eine Allegorie wie die ‚Hure Babylon‘ oder der ‚Leviathan‘.“ (33)
Noch stärker angesogen wird der Leser von der magischen Kraft dieses ersten Satzes: „Die Zeichen für ein Schwinden gesellschaftlicher Kohäsion sind vielfältig.“ (34) Ja, sie sind verwirrend vielfältig, und deshalb muss man sie deuten können, diese Zeichen. Dazu sind nur ganz wenige berufen und befugt. Und zu diesen Auserwählten möchte Vowe gehören, der Zauberlehrling und künftige Magier.
Eine andere, eine handfeste, schlagkräftige Seite eröffnet dieser Einstieg: „Wahlkämpfe sind Kampagnen im ursprünglichen Sinne: Parteien und Kandidaten ziehen gegeneinander ins Feld, um die öffentliche Meinung zu erobern.“ (35) Hier liebäugelt Vowe mit der Rolle des Strategen, des Feldherrn. Statt aufs Stehpult möchte er sich wohl auf den Kartentisch stützen, statt der Maus den Marschallstab umklammern. Noch unverhohlener hier: „Welche Bedingungen entscheiden über Erfolg oder Misserfolg in einem Feldzug – und zwar in einem Feldzug, in dem es nicht um die Eroberung von Territorien geht, sondern um die öffentliche Meinung; einem Feldzug, in dem nicht mit militärischen Mitteln operiert wird, sondern mit kommunikativen?“ (36) Allein Vowe kennt die Antwort – eine Antwort, die zu Sieg und Ruhm führt.
Erinnern Sie noch den Anfang dieses Anfangs? „Welche Bedingungen entscheiden über Erfolg und Misserfolg?“ Das verweist auf einen von Vowe reichlich genutzten Einstieg. Gefühlt jede zweite Publikation beginnt so. Der Leser schlägt nichtsahnend die Zeitschrift auf, er freut sich auf ein entspanntes Gespräch mit dem Autor und wird plötzlich angebrüllt:
„Wie ist soziale Ordnung möglich?“ (37) Oder ein Jahr später: „Wie sieht sich eine Gesellschaft?“ (38) Oder der Leser soll sich auf der Stelle entscheiden: „Dürfen Politiker weinen?“ (39) Oder er soll eine Frage beantworten, die er sich noch nie gestellt hat, etwa: „Warum lacht der Mensch anders als andere Primaten?“ (40) Oder: „Was ist der Kern von Politik?“ (41)
Der Leser zuckt zurück und stottert: Woher soll ick dit wissen? Heiß ick Max? Bin ick Weber? Aber Vowe kennt kein Pardon, sondern setzt nach: „Wissenschaftskommunikation 2.0? Was soll das denn sein?“ (42) Der erste Satz als konfrontativer Einstieg in ein Verhör. Der Leser wird eingeschüchtert und schenkt Vowe alle Aufmerksamkeit, die er zusammenkratzen kann. Vowe kennt aber auch den kooperativen Einstieg, er mimt gerne auch mal den Good Cop: „Wer wollte leugnen, dass Massenmedien an Bedeutung gewinnen?“ (43) Der katechisierte Leser beeilt sich zu versichern: er würde das nie und nimmer bestreiten, schon gar nicht leugnen, also wider besseres Wissen behaupten. Ob kooperative oder konfrontative Eröffnung: In beiden Spielarten erleben wir Vowe als den Inquisitor, der den Leser einem hoch-notpeinlichen Verhör unterzieht. Dabei nutzt er gerne auch mal Entrées wie diesen hier: „Politische Kommunikation ist ein weites Feld.“ (44)
Das ist ein Musterbeispiel dafür, was die Kriminalistik einen ‚Lasso‘-Einstieg ins Verhör nennt. Der Delinquent hört einen solchen ersten Satz, er muss nicken, er kann gar nichts anderes rufen als: Oh ja, das stimmt vollkommen!, und schon ist er gefesselt – bis zur allerletzten Zeile. Raffiniert!
Inquisitor, Stratege, Magier, Meisterschüler, Reporter, Regisseur: Das könnten die heimlichen Wünsche des Gerhard Vowe sein, das Sechseck seiner alternativen Lebensentwürfe. Sie finden in den ersten Sätzen ihr Ventil, damit der Kessel der verpassten Gelegenheiten nicht platzt.
III
So, liebe Alle. Soweit der heitere Rückblick auf ein Gelehrtenleben. Nun wird es wolkig und trübe, wenn ich ernsthaft bilanziere. Denn jede Biografie hat komische und tragische Züge, und das spielt immer ineinander. Ich bin ein Anhänger von Kennzahlen, ich will die Welt der Wissenschaft vermessen. Denn das schärft den Blick, auch bei einer Lebensbilanz. Die Erwartungen an ein Professorenleben sind hoch, vor allem die eigenen. Was zeigt uns die Rückschau? Auf den ersten Blick einen Output von beachtlichem Umfang. Wenn man alle Seiten meiner Publikationen hochkant aneinanderreiht, kann man die Bahnstrecke von Berlin nach Düsseldorf komplett abdecken. Und der zu erwartende Rest des Werks wird noch von Düsseldorf Hauptbahnhof bis Uni-Ost reichen. Aber das ist ja wohl nicht der eigentliche Sinn von Publikationen.
Der Output ist ein Maßstab, ein anderer ist der Outcome, die Wirkung der Publikationen. Und die ist doch sehr bescheiden. Die Resonanz auf meine Publikationen strebt gegen Null, eine einzige Asymptote. Und der Impact? Also die langfristigen Folgen der Publikationen, etwa für die Forschung oder für die Politik oder für die Menschheit? Darüber decken wir gewöhnlich den Mantel des Schweigens, aber ich möchte hier und heute nicht um eine Antwort herumschleichen. Veränderungen, die meinen Forschungsleistungen zuzurechnen sind, die auf sie zurückgeführt werden können, die muss man mit sehr fein kalibrierten Instrumenten aufspüren, da bedarf es eines Elektronenmikroskops. Tröstlich ist dabei: Auch die unerwünschten Folgen sind sehr begrenzt geblieben. Da ist nicht viel zu bereuen. Es gibt keinen Kausalnachweis und kein Kampagnenrezept, bei dem ich unter Krokodilstränen beteuere, ich habe nicht gewollt, dass das solche Kreise ziehe. Für ein solches Bedauern sind einfach zu wenige Ringe im Wasser. Die Kluft ist tief zwischen adipösem Output und magersüchtigem Outcome und Impact. Ich bin mir sehr sicher: Von all dem Geschriebenen wird ganz wenig bleiben – ein Steinchen im Mosaik der Wissenschaft. Mit dieser Kränkung muss jeder leben lernen, der sich der Wissenschaft verschreibt. Einschneidend war die Frage meines Enkels Jules: „Ähh – Hast du mal was erfunden, oder so?“ Kinder können so grausam sein. Das erinnert an den Ausruf des Kindes „Aber er hat ja nichts an!“ in Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“. Ja, ich spüre schon das aufmunternde Schulterklopfen und höre schon: „So seicht war es nun auch wieder nicht.“ Oder: „Alter, da geht noch was!“ Ja, es ist nicht ausgeschlossen, dass sich doch noch etwas als bleibend herausstellt, aber wahrscheinlich ist es nicht. Und ja, ja, auch der Flügelschlag eines Schmetterlings kann weitreichende Folgen haben, aber mit welcher Wahrscheinlichkeit? Und würde ich selbst einen nennenswerten Geldbetrag darauf setzen, dass mein Wert im h-Index noch kräftig zulegt? Nicht einen Cent! Das wäre Hazard! Da setze ich lieber auf Ghana als Fußballweltmeister.
Aber, meine Damen und Herrn: Ist es angemessen, die Bilanz eines Professorenlebens auf die Forschung und hier auf die Publikationen zu beschränken? Wir starren auf Aufsätze und Bücher und hoffen: Wer schreibt, der bleibt! Aber der schönste Beruf der Welt, Universitätsprofessor in Deutschland, zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass er unendlich viele Möglichkeiten bietet, Forschung und Lehre und Management zu verbinden und dies in einem unvergleichlich hohen Maße selbst zu gestalten. Der Professorenberuf fordert und bietet ein breites Portfolio an Tätigkeiten. Schimmert da Hoffnung? Rettet das vielleicht die Lebensbilanz?
Eine unserer Kernaufgaben, vielleicht nicht gerade unsere Kernkompetenz, ist das Management. Und das ist mehr als Verwaltung oder Administration. Professoren sind auch Organisatoren. Sie sollen erschaffen, erhalten, gestalten: Studiengänge, Institute, Kliniken, Fachgesellschaften, Kontrollinstanzen, Universitäten, Akademien und DFG-Forschungsverbünde – aus meiner Sicht der Gral wissenschaftlicher Organisationsleistungen. Ich konnte in den letzten fast 50 Jahren an einigen Orten wissenschaftliche Einrichtungen aufbauen und ausbauen. Ich musste glücklicherweise nie abbauen oder abreißen. Allerdings: Etliche Einrichtungen, die ich mit aufgebaut habe, gibt es heute nicht mehr, sie haben nicht überlebt. Andere haben sich von meiner Geburtshilfe erholt und laufen auf eigenen Beinen, und das ist gut so. Es gibt also durchaus Spuren meiner Organisationstätigkeit, aber selbst Kalle Blomquist, der Meisterdetektiv, wäre überfordert, die Spuren zum Ursprung zurückzuverfolgen. In organisatorischer Hinsicht wird man sich mehr an meine Marotten erinnern, etwa an ein ausgefeiltes System von To-Do-Listen oder an den Eifer, Konzepte zu entwerfen, die aber nur so lange glänzen, wie man sie nicht umsetzen muss. Nachhaltigkeit sieht anders aus. Immerhin: Im Hörsaal sitzen einige Träger des Licentiatus rerum publicarum, des einzigen akademischen Grades, den ich erfunden habe. Und sie sind zeitlebens dankbar. Hier war eigentlich ein spontaner Applaus vorgesehen, aber bitte…
Und damit sind wir bei der Lehre. Für viele Kollegen eine lästige Pflicht, für mich eine mit Freude geschulterte Last. Selbst den Prüfungen konnte ich etwas abgewinnen. Ich selbst lernte dabei am meisten, etwa Fragen präzise zu formulieren oder Antworten fair zu bewerten oder vom Outfit nicht auf den Outcome zu schließen. Durch meine Lehre habe ich sicherlich ein Scherflein dazu beigetragen, Berufspraxen zu verwissenschaftlichen, sie vernünftiger zu machen. Noch wichtiger, sogar das Wichtigste in der akademischen Lehre ist es, den wissenschaftlichen Nachwuchs zu fördern und zu fordern. Das gehört ins Zentrum unserer professoralen Identität. Keine Forschung ohne Lehre – keine Lehre ohne Forschung. Diese Kombination ist die DNA der Universität. Sie birgt unsere größte Hoffnung und Verantwortung: In der Lehre den Geist der Forschung weiterzutragen, lebendig zu halten, an Jüngere und Talentiertere zu vermitteln. Die einzigartige Chance dieses Berufs ist es, Menschen die Tür zur Forschung zu öffnen. Und in meinem Falle: zu einer Forschung, die nach kausalen Erklärungen für soziale Phänomene sucht und diese Erklärungen immer wieder an der Wirklichkeit prüft, in methodisch penibel kontrollierter Weise. Diese Chance habe ich mit aller Kraft zu nutzen versucht – viele Türchen geöffnet und einige Tore. Darin sehe ich auch den eigentlichen Sinn von Drittmitteln: Sie machen es möglich, weiteren Talenten den Weg in die Forschung zu zeigen, auf dem sie dann weitergehen oder auch nicht. Und wir wissen ja nicht, bei wem der Funke überspringt, wer von denen, für die wir Türen öffnen, dann weiterkommt als wir selbst. Vielleicht ist darunter jemand mit einer zündenden Idee oder mit einem begnadeten Führungsstil. Vielleicht wird aus der etwas nervigen Charlotte der neue Paul Felix Lazarsfeld oder aus dem eher ruhigen Simon eine zweite Elisabeth Noelle-Neumann, wenn man Simon ermutigt und ein bisschen schubst, oder wie man heute sagt: nudged. Voraussagen kann man es nicht und erst recht nicht planen oder gar erzwingen.
Dennoch: Es ist unverantwortlich, wie wenig wir die Erfahrungen bei der Nachwuchsförderung systematisch aufarbeiten und in Regeln für zukünftiges Handeln übersetzen. Wir müssten viel gründlicher untersuchen, was aus denen wird, die wir belehren und betreuen. Welche unserer Einschätzungen von Eignung für Wissenschaft erweist sich als falsch positiv, welche als falsch negativ? Wir sollten uns bei der Nachwuchsförderung nicht auf Gespür und Routine verlassen, sondern das systematisch erproben, so wie wir das bei der Diagnose von Krankheiten oder bei der Sportförderung inzwischen selbstverständlich tun. Der Spielraum ist groß, und wir sollten ihn vernünftiger nutzen als bisher.
Allerdings gebe ich mich auch mit Blick auf die Lehre keinen Illusionen hin: Diejenigen, die bei mir ihren Abschluss gemacht haben, erinnern sich noch deutlich an mich mit zumeist positiver Grundfärbung. Manche davon geben vielleicht an andere sogar etwas von dem weiter, was sie von mir gelernt haben, aber meist, ohne das explizit mit dem akademischen Lehrer zu verbinden. Dadurch kennen schon die Enkel den Großvater nicht mehr. Dem Lehrer flicht die Nachwelt keine Kränze! Postmortale Bedeutsamkeit ist so gut wie ausgeschlossen. In jeder Grabesrede wird versucht, das zu übertönen, aber das Hoffen darauf ist naiv.
Forschung, Management, Lehre: insgesamt also eine ernüchternde Bilanz. Das könnte zu Verbitterung führen. Ich will mir aber nicht die nächsten 20 Jahre mit diesem Resümee vergällen. Und ich will Sie, meine Damen und Herren, ja auch nicht in tiefer Nachdenklichkeit, ja Bestürzung, entlassen.
IV
Wie können wir der Verbitterung entgehen? Der Schlüssel liegt in unserem Denken. Und so nehme ich mir vor, anders als bisher zurück- und vorauszublicken und meine Vorstellungen von Sinn, von einem gelingenden Leben zu verändern. Wie soll das gehen? Ich will das mit Antworten auf drei Fragen konkret machen.
Erste Frage: Was kann Sinn stiften? Das zielt auf die Sinnquellen. Darunter verstehe ich nicht irgendwelche Angebote zur Bespaßung von Senioren. Es geht nicht darum, was Spaß macht, sondern was Sinn stiftet. Als Maxime lässt sich formulieren: Wähle diejenige Handlung, die sinnvoller ist als andere Handlungen, die also größere positive Auswirkungen auf die Zufriedenheit anderer Menschen hat. Je mehr jemand diese Maxime befolgt, desto zufriedener ist er selbst. Dafür gibt es Evidenz, die kann ich hier nicht ausbreiten.
Bislang habe ich mich weitestgehend an einer einzigen Sinnquelle orientiert, und zwar am Beruf, der bei uns immer auch Berufung ist – und das ist nicht dienstrechtlich gemeint.
Zukünftig gilt es, weitere Sinnquellen zu erschließen. Mittlerweile ahne ich, dass es noch einiges Andere um den Beruf herum gibt, was Sinn verheißt: Familie, Gemeinschaft, Politik und, und, und. Allerdings dürften einige in den ersten Reihen es als Drohung auffassen, wenn ich verkünde, ich wolle mich künftig mehr um meine Familie kümmern. Erschließung weiterer Sinnquellen: Das soll aber nicht heißen, dass ich die bislang sprudelnde Sinnquelle aus-trocknen lasse. Ich halte die Gegenüberstellung von Work und Life für abstrus. Nicht nur für mich steht Arbeit nicht im Gegensatz zum Leben, sondern im Zentrum des Lebens. Ebenso wie Künstler fallen Wissenschaftler nicht mit 67 in einen Ruhezustand. Sie sind in der Regel weiter intrinsisch motiviert, einen, ihren wissenschaftlichen Beitrag zu leisten. Aber darauf muss sich die Sinnstiftung ja nicht beschränken. Also: Aus welcher Sinnquelle wollen wir schöpfen? Ich strebe keinen Bruch an, sondern eine neue Balance: Mehr andere Sinnquellen als früher und weniger Wissenschaft.
Zweite Frage: Wer soll beurteilen, was Sinn stiftet? Das zielt auf die Richter, auf diejenigen, die über Sinn und Unsinn entscheiden. Bislang war für mich in hohem Maße das Urteil von Anderen maßgebend, vor allem der Peers, ihre Resonanz, ihre Anerkennung, ihre geäußerte oder vermutete Billigung oder Missbilligung. Mit der Zeit lernt man: Deren Urteil ist nicht immer glasklar und einhellig und lauter. Auch deshalb wird für mich zukünftig mehr das eigene Urteil maßgebend darüber sein, was sinnvoll ist. Denn nur ich selbst kenne die Bedingungen, unter denen etwas gelingen kann, die physischen und mentalen Fähigkeiten und Unfähigkeiten. Nur ich kann kalkulieren, wann sich welcher Einsatz lohnt. Das soll überhaupt nicht heißen, dass ich mich nicht mit Anderen austauschen will über Sinnhaftigkeit oder dass ich aufgebe, von Anderen zu lernen. Also: Wer soll darüber urteilen, was Sinn stiftet? Ich strebe keinen Bruch an, sondern auch hier eine neue Balance: Stärkeres Gewicht als früher soll das eigene Urteil haben, schwächeres das Urteil anderer.
Nach dem Was und dem Wer die dritte und entscheidende Frage nach dem Wie. Wie sollte beurteilt werden, was Sinn stiftet? Woran sollte man sich orientieren, um zu beurteilen, wie sehr das Leben gelingt? Das zielt auf die Sichtweisen. Bislang war mein Urteil stark von einem idealistischen Blick geprägt, von einer Sicht der Welt, wie sie sein sollte. Maßgebend war der Idealtyp des Gelehrten. Mein ganzes Leben habe ich darauf ausgerichtet, was sein könnte, habe danach gestrebt, das zu erreichen, was ich noch nicht erreicht hatte: akademische Grade etwa oder Einwerbung von Drittmitteln oder Awards. Und dieses Streben ist ein Nimmersatt: Selbst Nobelpreisträger fürchten sich vor dem Vergessen-Werden und sehnen sich nach dem Status des unsterblichen Gelehrten. Diese Orientierung am fernen Ideal, am immer zurückweichenden Horizont, sie ist notwendig, damit wir überhaupt etwas erreichen. Es bedarf der hochgesteckten Ziele, damit Zwischenziele tatsächlich erreicht werden. Wir messen uns daran, was wir sein könnten. Das geht am besten, wenn das personifiziert ist, in Vorbildern oder Konkurrenten. Wir vergleichen uns, und das spornt uns an, wenn es nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, deren Leistungen auch zu erreichen oder sogar noch zu über-treffen. Diese dauernde Unzufriedenheit ist also funktional in der Zeit des Lebens, in der wir mit federnden Schritten weiterkommen können. Sie wird dysfunktional, wenn der Gang schleppender wird.
Zukünftig soll mein rückblickendes und vorausschauendes Urteil stärker von einer realistischen Sichtweise geprägt sein. Ich will mich stärker orientieren an der Welt, wie sie ist, mit ihren Bedingungen, plötzlichen Ereignissen, knappen Ressourcen, vor allem der Zeit, und mit ihren Unterschieden und Veränderungen. Wir bleiben nicht genauso fit und genauso schlau wie früher. Ich werde mich also stärker am Realtyp des Gelehrten orientieren, denn nur das ermöglicht realistische und damit faire Urteile über das, was geleistet wurde, und über das, was noch zu leisten sein wird. Das bedeutet nicht, dass ich mir keine ambitionierten Ziele mehr setzen will, nach denen zu streben sich lohnt.
Also: Sollen wir die Sinnfrage in idealistischer oder in realistischer Weise angehen? Wir brauchen beide: Platon, der auf den Himmel weist, und Aristoteles, der auf den Boden zeigt. Aber ein wenig mehr Aristoteles als früher sollte es sein – eine neue Balance zwischen der idealistischen und der realistischen Sichtweise. Dann könnten wir auch klarer sehen, wie weit wir unter den jeweiligen Bedingungen bereits gekommen sind, und würden nicht nur sehen, wie weit wir von der Insel der Glückseligkeit noch entfernt sind. Und eine stärker realistische Sichtweise legt ja auch nahe, empirisch zu ermitteln, wie Wissenschaftler in ihrem Lebenslauf mit der Sinnfrage tatsächlich umgehen, etwa was sie als gelungen ansehen und was sie dafür praktisch tun: Empirische Wissenschaftsethik. Das könnte auch zur Folge haben, dass Ältere mehr von den Jüngeren lernen. Denn die derzeit maßgebende Forschergeneration, die zwischen 25 und 40, geht sehr pragmatisch mit den drei Fragen um, die ich mit zerfurchter Stirn gestellt habe: Sie schöpft wie selbstverständlich aus mehreren Sinnquellen. Sie bildet sich ihr eigenes Urteil über Sinnhaftigkeit. Und vor allem schätzt sie realistisch ein, was unter ihren individuellen Bedingungen möglich ist. Diese Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, ja da muss ich vom generischen Maskulinum abweichen, sie bilden einen GelehrtInnentypus, von dem wir alle lernen können. Und so werden Juniorprofessorinnen zu Role Models für Seniorprofessoren. Wir leben in erstaunlichen Zeiten.
Zusammengefasst der Kern des Konzepts: Ich schlage vor und habe vor:
Wo genau auf den drei Spannungsbögen des Wer, Was und Wie der Sinnstiftung der Punkt liegt, an dem eine neue Balance erreicht ist, das muss jeder individuell ermitteln. Darum kann es zwar ein Grundmuster geben, wie ich es mit den drei Spannungsbögen gezeichnet habe. Aber es kann kein allgemeines Rezept geben, wie wir eine Balance erreichen, die Sinnstiftung verheißt. Folglich gibt es auch keine Geheimkarte, auf der eingezeichnet ist, wo der Sinn zu finden ist. Das Ausbalancieren muss sich deshalb von Person zu Person unter-scheiden, weil die Bedingungen unterschiedlich sind: Persönlichkeit, Gesundheit, Familie, Fachkulturen, Kompetenzen, Erfahrungen, Erwartungen – alles das unterscheidet sich. Und deshalb wirkt beim Einen eher verzagt, was beim Anderen schon tollkühn erscheint – jede und jeder muss für sich Maß und Mitte finden.
V
Ich jedenfalls bin guter Hoffnung, dass ich mich auch in Kenntnis der ernüchternden Bilanz zu einem gewissen Maß an Zufriedenheit durchringen werde. Auch zukünftig werde ich die Wahl dieses Berufs keine Sekunde lang bereuen. Denn insgesamt war das Erreichte zwar weniger als das Erstrebte, aber mehr als das Erwartbare. Dass es weniger als das Erstrebte war, das kann ich nicht auf widrige Umstände oder dunkle Mächte schieben. Wenn ich Möglichkeiten nicht realisiert habe, ist dafür niemand anderes verantwortlich als ich selbst: we-der Elternhaus noch Lehrer, weder Universitäten noch Kollegen, weder die DFG noch die Deutsche Bahn. Dafür, dass ich diese Fülle von Chancen hatte, dass überhaupt möglich war, mehr zu erreichen als das Erwartbare, dafür bin ich unendlich dankbar – nicht der Vorsehung oder dem deutschen Wissenschaftssystem, sondern einigen Persönlichkeiten, von de-nen viele heute anwesend sind. Einige davon hielten es sicherlich für durchaus angebracht, wenn ich sie namentlich nennte; einigen anderen wäre genau das peinlich. Darum lasse ich es ganz. Diejenigen wissen, wie dankbar ich ihnen bin, dass sie mir Türen geöffnet haben. Und es ist ein Glück, dass ich etlichen davon nicht nur dankbar, sondern auch freundschaftlich verbunden bin. Jetzt gilt es, Augenkontakt zu vermeiden. Ihr Vertrauen habe ich hoffentlich nicht enttäuscht, und ich habe mich zumindest bemüht, etwas zurückzugeben.
Dankbar bin ich auch denen, die über all die Jahre mit mir zusammenarbeiten mussten, vor allem die wissenschaftlichen und administrativen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie haben mir ermöglicht, die knappe Zeit gut zu nutzen. Und wie geduldig Sie meine Marotten ertragen haben und wie dezent Sie über Unfähigkeiten hinweggeschaut haben, das hat streckenweise schon buddhistische Gelassenheit erfordert. Und vor allem: mein Vertrauen in Ihre Loyalität und Integrität ist nie enttäuscht worden, nie. Auch wir sind hoffentlich quitt, und niemand fühlt sich ausgenutzt.
Danken möchte ich meinen Kindern, Sie sind alle hier versammelt, schon dafür hat sich der Aufwand gelohnt. Ohne sie stünde ich nicht hier, sondern läge ganz woanders. Es ist meine Essenz aus 50 Jahren Vaterschaft und Großvaterschaft: Kinder erziehen ihre Eltern mehr als umgekehrt. Laut Goethe sollten Eltern ihren Kindern Wurzeln und Flügel geben. Umgekehrt wird daraus eine Weisheit! Kinder geben ihren Eltern Flügel und Wurzeln. Sie lehren uns, zugleich in Stunden und in Jahrzehnten zu denken. Sie lehren uns, zugleich eine eigene Persönlichkeit auszubilden und offen für andere Lebensentwürfe zu bleiben. Und sie lehren uns, sich in Andere hinein zu fühlen, sich aber in Anderen nicht zu verlieren. Dieses Balancieren habe ich durch Elternschaft gelernt, und dann gemerkt, wie hilfreich das auch für Forschung und Lehre und Management sein kann. Meine Kinder haben mich sehr gut erzogen, jedes auf seine Art und jedes nachdrücklich. Das, was Ihr hier seht, ist auch Euer Werk. Damit müsst Ihr leben. Und danken möchte ich Dir, Beata: Ohne Dich bin ich nicht vorstellbar, schlicht nicht vorstellbar.
Jetzt sind die Grenzen zur Sentimentalität zum Greinen nah. Genug gebarmt, genug gedankt. Meine Bitte an Sie und Euch: Verlieren wir uns nicht aus den Augen, solange wir uns noch erkennen! So weit, so gut.
Danke und Glück auf!
Die Abschiedsvorlesung mit Grußworten und musikalischer Einrahmung durch den Chor der Heinrich-Heine-Universität kann online angesehen und angehört werden.
Gerhard Vowe: Rückblicke auf Anfänge. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2022. http://blexkom.halemverlag.de/gerhard-vowe-abschiedsvorlesung/ (Datum des Zugriffs).
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]]>Eine Würdigung zur Verabschiedung eines Kollegen hat viel gemein mit einer Rede am offenen Grab, unterscheidet sich aber in einem gewichtigen Punkt: Der Besungene ist zumeist noch hellwach und spitzt die Ohren, ob da ein falscher Ton mitschwingt und ob das Material, das er selbstlos zur Verfügung gestellt hat, auch gründlich durchgearbeitet wurde, vor allem, ob die Titel von Magisterarbeit und Dissertation korrekt und vollständig und mit der nötigen Inbrunst wiedergegeben werden. Sie sehen mich hier also auf sehr dünnem Eis schliddern, aber es sind ja etliche Ersthelfer anwesend, die mich notfalls aus dem Loch ziehen.
Also dann mal los. Rückblicke und Ausblicke. Was zeigt uns der Blick zurück? Unser Gedächtnis ist ein guter Ratgeber bei der Auswahl, was sich letztlich zu erinnern lohnt: Was hat sich mir als Begegnung mit Bernd eingeprägt? Ich sehe, wie Bernd rubriziert: „Szenischer Einstieg. Mal sehen…!“ Also: Es ist weit über 20 Jahre her, da saßen wir beide am Berliner Gendarmenmarkt in einer Lokalität, einer eigentümlichen Mischung aus Vor-Wende-Budike und Nach-Wende-Boutique – und das betraf nicht nur die Einrichtung, sondern auch die Wirtin. Es ging wie so oft in dieser Zeit um eine Berufung, Bernd war im Rennen und bog auf die Zielgerade ein, und ich betrieb, man würde heute sagen: „Erwartungsmanagement“. Ich machte also die enormen Schwierigkeiten deutlich, die seiner Berufung entgegenstünden. Und da sagte Bernd irgendwann: „Wenn es nicht klappt, dann klappt es eben nicht“. Da war ich verblüfft. Über dieses Ausmaß an Gelassenheit, und die war authentisch, nicht vorgegaukelt, wie mir nonverbale Zeichen verlässlich signalisierten. So etwas wird nicht antrainiert, so etwas ist elementarer Teil von Persönlichkeit. Und damit sind wir in Herford, dem Geburtsort von Bernd, und das liegt in? Richtig: in Westfalen, genauer in Ostwestfalen.
Bernd ist aufgewachsen in Herford, hat in Löhne, ebenfalls Ostwestfalen, die Schule besucht. Wofür ist das wichtig? Die Antwort hat der diesjährige Oscar-Favorit Kenneth Branagh so formuliert: „Wir alle haben eine Geschichte. Sie unterscheidet sich von anderen nicht dadurch, wie sie endet, sondern durch den Ort, an dem sie beginnt.“ Und Bernds Geschichte beginnt in Herford. Das prägt und das trägt jemanden auch durch das Studium Anfang der 80er in Berlin, dem absoluten Gegenpol zu Gelassenheit. Und wo hat er volontiert? Bei der Neuen Westfälischen. Und wo hat er dann promoviert und sich habilitiert? In Dortmund, in Hörweite des Westfalenstadions. Und ist dann schließlich nach Irrfahrten im Hanseatischen und Fränkischen wieder nach Hause zurückgekehrt, nach Münster, an die Westfälische Wilhelms-Universität. Und er wohnt bis heute in Bielefeld, dem Inbegriff des Westfälischen. Damit will ich nicht insinuieren, dass er provinziell oder borniert wäre. Bernd hat viel im Ausland gewirkt, beispielsweise in Salzburg, in Lissabon, ja: in Moskau. Aber ein Westfale hat seinen eigenen Blick auf die Welt. Bernd ist der Prototyp des westfälischen Kommunikationswissenschaftlers, so wie es auch den Prototypen des wienerischen oder des pfälzischen oder des rheinpreußischen Kommunikationswissenschaftlers gibt. Ihn zeichnet Beharrlichkeit aus, positiv konnotiert als Zuverlässigkeit und Besonnenheit. Bernd überlegt. Bernd wägt ab. Bernd gleicht aus.
Bernd bringt das Westfälische in die Kommunikationswissenschaft ein, und das zeigt sich an vielen Facetten seines Wirkens, beispielsweise an seinen Themen. Bernd ist ganz sicher nicht jemand, der als erster in Deutschland eine Lehrveranstaltung zu TikTok anbietet oder hybride Protestformen der Querdenkerszene untersucht, in teilnehmender Beobachtung. Nein, denn er ist jemand, der weiterhin den professionellen Journalismus ins Zentrum rückt – da, wo der hingehört, in analoger und in digitaler Form. Denn dafür bildet er vor allem aus, für einen Journalismus, der sich unter enormen Herausforderungen rapide wandelt.
Eine zweite Facette des Westfälischen in seinem Wirken: Bernd ist jemand, auf den sich Promovierende und Studierende verlassen können. 15 Promotionen hat er betreut, 159 Magisterarbeiten, 53 Masterarbeiten und 96 Bachelorarbeiten – insgesamt 323 Menschen (und deren Angehörige) haben sich auf ihn angesichts einer existenziellen Herausforderung verlassen können – von der ersten Idee bis zur letzten Note. Bernd hat ihnen Sicherheit in einer Situation gegeben, in der sehr viele höchst verunsichert sind – etliche zum ersten Mal wirklich auf sich allein gestellt, mit offenem Ende, mit hohen Risiken. Dafür wünscht man sich einen Westfalen.
Und, dritte Facette des Westfälischen: Bernd ist jemand, dem es als einem der wenigen Kommunikationswissenschaftler in Deutschland gelungen ist, sehr eigenständige und sehr unterschiedliche Forscherinnen und Forscher dazu zu bringen, fast zehn Jahre miteinander zu kooperieren. Von 2012 bis 2021 war er Sprecher des Graduiertenkollegs „Vertrauen und Kommunikation in einer digitalisierten Welt“. Vertrauen war sein zentrales Thema. Vertrauen in Wissenschaft, Vertrauen in und im Journalismus, Vertrauen in Organisationen, Vertrauen in Politik. Das schöne an Vertrauen ist: Man kann es erforschen, aber man kann es auch erleben! Das ist bei Themen wie Korruption, Desinformation oder Inzivilität weniger möglich und wenn, dann nicht sonderlich angenehm. Anders bei Vertrauen: Bernd hat man vertraut, und zwar die Gutachter, die Entscheider in den DFG-Gremien und nicht zuletzt die beteiligten PIs. Und auch in der Uni hat man Bernd vertraut und Bernd mit Ämtern betraut. Und die Fachgemeinschaft hat Bernd vertraut und ihn zum Fachgruppensprecher und in ihre Ethikkommission gewählt. Und Bernd hat dieses Vertrauen nicht enttäuscht.
Bernd: In Forschung, Lehre und Management hast Du die Chancen genutzt, die man Dir mit der Position eines Universitätsprofessors eröffnet hat. Und damit hast Du wiederum sehr vielen Menschen Chancen eröffnet, Türen geöffnet – Türen zur Wissenschaft, zu Forschung und Lehre. Und etliche sind durch diese Türen gegangen.
Nun aber „Augen – gerade aus!“ Den Ton kennt der Zivildienstleistende Bernd Blöbaum nur aus Filmen und Büchern. Zivil gesprochen: Wie geht es weiter? Da interessiert mich jetzt nicht, wie es im Institut ohne Bernd Blöbaum weitergehen soll. Da mache ich mir nicht die geringsten Sorgen. Zumeist rütteln sich die Hinterbliebenen nach einer Schrecksekunde doch rasch zurecht und erörtern alsbald erstaunlich konkrete Pläne, die zeigen, dass sie länger schon über die Zeit ohne denjenigen nachgedacht haben. Wichtiger und brennender ist, wie Du das hinbekommst, wie Du mit dieser Zäsur leben wirst. Sicher: Deine Familie, Dein Verein, Dein Schöffenamt, Deine Neugier auf fremde Länder und andere Sitten, die schönen Künste – alles das fordert gebieterisch mehr Zeit und Einsatz. Aber reicht das? Du wirst einiges vermissen. Eine kleine Vorschau: So wird Dir die Differenz von Gehalt und Pension mehr zu schaffen machen, als Du jetzt noch meinst. Du wirst überlegen, ob du dir das Abonnement der Zeit noch leisten kannst. Vielleicht doch lieber in der Stadtbücherei lesen? Da kommt man auch schneller durch, weil der nächste Rentner bereits wartet, das spart dann auch Zeit. Du wirst in einen pekuniären Abgrund schauen. Abstrakt weißt Du, was das heißt, Ruhegehaltssatz, minus 29,75 Prozent. Aber wenn sich das erst einmal auf dem Abendbrottisch abzeichnet, wenn Du in entgeisterte Augen blicken musst, die die bislang selbstverständliche Vielfalt beim Aufschnitt vermissen. Westfälischer Knochenschinken vom Bentheimer Landschwein? Gibt es erst, wenn die Waschmaschine repariert ist. Dann wird das sehr konkret. Geld ist das eine, der Takt das andere. Bislang ist Dein Leben durchgetimt, nun drohen weite Teile des Tages und der Woche in einem Zeitbrei zu verschwimmen. Und dann Dein Netz: Noch zwingt Dich die vermaledeite Lehre, Dich mit Lebensweisen und Sprachformen und Ansichten auseinanderzusetzen, die ziemlich anders sind als Deine. Aber bald werden die Knoten in Deinem Netz fast alle gleich alt und Dir sehr ähnlich sein. Das unterstützt den alterungsbedingten Hang zur Trägheit, aber macht auch unzufrieden.
Ja, und dann der Sinn! Wir Älteren ziehen Sinn vor allem aus der Arbeit, aus dem Beruf, der bei uns immer auch Berufung ist. Das wird nun anders werden, Bernd. Diese Sinnquelle wird versiegen.
Und da setzt meine als guter Rat getarnte dringende Bitte an. Ich rate nicht dazu, dem Institut erhalten zu bleiben, das führt meist zu Reaktanz bei den Verbliebenen. Aber es könnte Sinn stiften, wenn Du doch dem Fach erhalten bliebest. Wie genau, ist unwichtig, vor allem hier und jetzt. Aber das Fach, unsere Kommunikationswissenschaft, braucht weiter Deine Erfahrung und Dein Engagement. Ich wünsche Dir von Herzen, dass Du Dir vor dem Spiegel zwischen Zahnbürste und Zahnseide sagen kannst: „Meine Pflicht habe ich erfüllt. Die Chancen, die man mir gegeben hat, habe ich genutzt. Und alles, was ich jetzt noch fachlich anpacke, das ist on top, das ist freiwillig.“ Und vor allem, füge ich hinzu: „Es ist sinnvoll!“ Denn Du wirst gebraucht, Bernd! Wir brauchen das Westfälische im Fach, lass mich nicht allein mit dem Bayrischem und dem Hanseatischen. Und damit: Danke für alles und Glück auf!
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]]>Der Beitrag Bernd Blöbaum erschien zuerst auf Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft.
]]>Geboren in Herford, Schulbesuch in Löhne, beides in Ostwestfalen (vgl. Vowe 2022). Ab 1976 Studium in Bochum und Berlin (Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Politikwissenschaft, Sinologie). 1982 Diplom. Volontariat bei der Neuen Westfälischen in Bielefeld. 1983 bis 1987 dort Redakteur. 1987 wissenschaftlicher Angestellter am Institut für Journalistik der Universität Dortmund. 1994 Promotion, 1998 Habilitation. Lehrstuhlvertretungen in Hamburg (Wintersemester 1998/99) und Bamberg (1999 bis 2001). Zum Wintersemester 2001/02 Berufung auf einen Lehrstuhl (C4) für Kommunikationswissenschaft mit den Schwerpunkten Medientheorie und Medienpraxis an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. 2002 bis 2006 Sprecher der Fachgruppe “Journalistik/Journalismusforschung” der DGPuK. 2011 Gründungsherausgeber der Fachzeitschrift Studies in Communication and Media. 2012 bis 2021 Sprecher des DFG-Graduiertenkollegs “Vertrauen und Kommunikation in einer digitalisierten Welt”. 2002 bis 2007 und 2020 bis 2022 Geschäftsführender Direktor des Münsteraner Instituts für Kommunikationswissenschaft. Pensionierung im April 2022.
Bernd Blöbaum gehört zur letzten Generation von Journalismusforschern im deutschen Sprachraum, die den Beruf von der Pike auf gelernt und selbst in einer Redaktion gearbeitet haben. Er ist dabei den Weg gegangen, der seinerzeit üblich war: Studium, Volontariat, Festanstellung (vgl. Schmidt 2002). Der Wechsel in die Wissenschaft erfolgte gewissermaßen fließend: Die Dortmunder Journalistenausbilder brauchten den Praktiker von der Neuen Westfälischen, und der entwickelte dort mit großem Erfolg eine Campuszeitung (vgl. Blöbaum 2000).
Mit seinen beiden Qualifikationsarbeiten und ihren sprechenden Titeln „Journalismus als soziales System“ sowie „Zwischen Redaktion und Reflexion“ legte Bernd Blöbaum dann den Grundstein für eine akademische Karriere, die in vielen Facetten ihresgleichen sucht. Das gilt zum einen für das Beharren auf der Bedeutung des Journalismus als Forschungsgegenstand und den engen Bezug zur Praxis, der sich unter anderem in einer Befragungsserie des taz-Publikums zeigt, die bereits 1993 ihren Anfang nahm (vgl. Vogelpohl/Feddersen 2019). Zum anderen ist Bernd Blöbaum einer der wenigen Fachvertreter, die eine interdisziplinäre Forschungsanstrengung zum Erfolg geführt haben. Er war ein Jahrzehnt lang Sprecher eines DFG-Graduiertenkollegs in Münster, zu dem neben der Kommunikationswissenschaft auch Psychologie, Sportwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft und Wirtschaftsinformatik gehörten.
Michael Meyen: Bernd Blöbaum. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2022. http://blexkom.halemverlag.de/bernd-bloebaum/ (Datum des Zugriffs).
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]]>Geboren am 26. Mai 1938 in Leipzig. 1957 Studium der Rechtswissenschaften in München, 1958 in Berlin. 1958/59 Politikwissenschaften in Princeton. 1961 bis 1965 Rechts- und Sozialwissenschaften in Köln. 1964 Erstes juristisches Staatsexamen in Köln. 1966 bis 1975 Studium der Politischen Wissenschaft an der University of Michigan. Parallel dazu Dozent und Studienleiter am Institute for Social Research (ISR). 1969 bis 1971 Dozent an der Summer School der University of Essex. 1972 bis 1978 Direktor des Ausbildungsprogramms für quantitative Methoden des Inter-University Consortium for Political and Social Research (ICPSR). 1975 Ph.D. Titel der Dissertation: The Impact of Political Events on Mass Publics (Erbring 1975). 1975 Assistant Professor im Department of Political Science der University of Michigan. 1979 Associate Professor im Department of Political Science der University of Chicago und Senior Study Director am National Opinion Research Center (NORC). 1980 „Front-Page News and Real World Cues: Another Look at Agenda-Setting by the Media“ (mit Edie Goldenberg und Arthur Miller). 1986 bis 2005 Lehrstuhl für Publizistik mit dem Schwerpunkt Theorie und Methoden der empirischen Kommunikationsforschung an der Freien Universität Berlin, in dieser Zeit mehrfach Visiting Professor an der University of Chicago und der Stanford University. Gestorben am 20. September 2021 (vgl. Vowe 2022).
Vielleicht können Sie zu Beginn etwas erzählen über Ihr Elternhaus, Ihre Kindheit, die Zeit bis zum Beginn des Studiums.
Mein Vater war Chemiker. Er hatte sich in Leipzig habilitiert und war dann einem Ruf an die TH in München gefolgt. Die erste Zeit ist er gependelt. Als ich drei Jahre alt war, sind wir vorübergehend zur Großmutter gezogen, nach Naumburg. Das war gut, denn die Leipziger Wohnung ist beim ersten Bombenangriff platt gemacht worden. Eigentlich wollten wir dann nach München, die Stadt wurde aber schon evakuiert, und wir sind in einem Bauernhof in Moosburg untergekommen, auf halber Strecke zwischen Freising und Landshut. Dort bin ich zur Grundschule gegangen, als „Zuagroaster“. Sehr ländlich. Ende 1948 sind wir dann nach Köln gezogen. Dort war ich auf dem Gymnasium. Mein Vater hatte das Angebot bekommen, Forschungschef einer großen Pharmafirma zu werden.
Also kein Karriereknick nach Kriegsende.
Nein. 1945 waren die Universitäten erst einmal geschlossen. Die ersten beiden Jahre hat mein Vater für die Amerikaner gearbeitet und dort deutsche Patente ausgewertet. Dann kam das Angebot aus Köln. Die Firma war früher in Dresden und hat Leute gesucht für den Neuaufbau. Vater war dann an der Kölner Universität Honorarprofessor. Er war politisch nicht belastet, aber auch kein Widerständler.
Hat Parteipolitik zu Hause eine Rolle gespielt?
Überhaupt nicht. Meine Mutter war weitgehend apolitisch und mein Vater ein typischer Naturwissenschaftler. Die interessieren sich eher für ihr Labor als für das, was in der Gesellschaft passiert. Er war kein Vorbild für politisches Engagement. Als Jugendlicher habe ich eine Gruppe im Christlichen Verein Junger Männer geleitet. Mit Zeltlagern und allem, was dazu gehört. Das fand ich interessant. Zu Hause gab es aber einen Medienbezug. Meine Mutter hat mich ermuntert, an den NWDR zu schreiben und mich als Kindersprecher zu bewerben. Ich habe dort ziemlich regelmäßig Hörspiele und Schulfunk gemacht, später auch Filme synchronisiert. Damit habe ich richtig Geld verdient.
Dann will man doch Schauspieler werden.
Sie haben völlig Recht. Der Stimmbruch kam relativ spät, und die Regisseure fanden es natürlich prima, Kinderrollen mit einem 16-Jährigen besetzen zu können. Ich fand das auch gut, weil ich so im Geschäft blieb. Eine solche Karriere war mir dann aber doch nicht ganz geheuer. In diesem Beruf ist man völlig abhängig vom Wohlwollen anderer. Dass das nicht steuerbar ist, merkt man schon als Jugendlicher. Eine Zeitlang wollte ich dann Pilot werden. Sozusagen der bessere Lokomotivführer. Vielleicht auch Flugzeugbauingenieur. Ich habe mich sehr für Physik interessiert. Wir hatten in der Oberstufe damals selbstverständlich Integral- und Differentialrechnung, auch an einem neusprachlichen Gymnasium. Meine Begeisterung für das Fliegen war in England entstanden. Mit 17 Jahren war ich ein Semester als Austauschschüler in London. Dort gab es am Kiosk mindestens ein halbes Dutzend Flugmagazine. Alles Dinge, die ich in Deutschland damals überhaupt nicht kannte. Ich bin dann als einer der ersten Lufthansa-Passagiere von London nach Köln zurückgeflogen.
Warum haben Sie die naturwissenschaftliche Schiene verlassen?
Das hat viel mit einem Geschichtslehrer zu tun. Ein ehemaliger Journalist, der sehr engagiert politische und zeitgeschichtliche Kontexte vermitteln konnte und deshalb sehr wichtig für mich war. Dieser Mann hat mein Interesse für Politik geweckt. Vor allem das Interesse für internationale Politik. Nach dem Abitur habe ich beschlossen, in den Auswärtigen Dienst zu gehen, und deshalb angefangen, Jura zu studieren. Erst zwei Semester in München und dann ein Semester an der FU, dort mit Politikwissenschaft im Nebenfach. Damals noch an der Deutschen Hochschule für Politik, dem Vorläufer des Otto-Suhr-Instituts. Mit von der Gablentz und Fraenkel. Nach dem Berliner Semester war ich mit einem Fulbright-Stipendium in den USA und habe in Princeton an der Woodrow Wilson School of Public and International Affairs ein Jahr Political Science studiert. Das war für mich außerordentlich prägend. Ich habe bis heute Freunde aus dieser Zeit. Über die deutsche Beobachtermission in New York bekam ich anschließend Gelegenheit zur Teilnahme am UN Internship Programm, im Political and Security Council Affairs Department. Das hat mein diplomatisches Interesse unterfüttert. Ich habe außerdem Spaß an Sprachen und hatte in Princeton ein Jahr lang Arabisch studiert, irgendwann auch mal ein bisschen Spanisch oder Schwedisch, eine Zeitlang sogar Thai.
Haben Ihnen diese Erfahrungen beim Jura-Studium etwas genützt?
Beim Jura-Studium sicher nicht. Außer vielleicht bei meinem Dissertationsthema über den völkerrechtlichen Status der indirekten Aggression. Dieses Thema ist aber bei meinem Aufbruch in die USA auf der Strecke geblieben. Ich habe dann in Köln weiter studiert und mich dort in der studentischen Selbstverwaltung engagiert. Gleich im ersten Semester wurde ich Präsident des Studentenparlaments und auf dem Jahreskongress des Verbandes Deutscher Studentenschaften sogar stellvertretender Vorsitzender für Internationales. Das war ein Fulltimejob und für mich natürlich besonders interessant, weil man damit viel in der Welt herumkam. Es war die Zeit des Algerien-Krieges. In Deutschland gab es damals an fast allen Universitäten Aktionen zur Unterstützung der algerischen Exilstudenten. Wir hatten intensive Kontakte zum algerischen Studentenverband. Es wurden Stipendien organisiert, Sponsoren gesucht und Sammelaktionen koordiniert.
In Berlin waren Sie 1958 auch in der Dovifat-Vorlesung. Warum sind Sie dort hingegangen?
Zu Dovifat musste man einfach hingehen. Als Attraktion. Dovifat hatte rhetorische Qualitäten. Er brachte es fertig, dass die Leute im großen Hörsaal bis zum Podium auf dem Fußboden saßen. Dabei waren die Universitäten damals noch nicht so überfüllt wie heute. Aber alle Welt ging zu Dovifat. Er erzählte irgendwelche Geschichten über das Tagesgeschehen oder über die Zeitung. Das war politisch interessant, und ich habe Politik studiert. Mit Medien hatte ich damals noch nichts am Hut.
Hat man nur Dovifat gesehen oder auch das Fach?
Überhaupt nicht. Von dem Fach hatte ich weder etwas gehört noch etwas gewusst. Keiner meiner Kommilitonen hatte etwas mit Publizistik zu tun. Es ging nur um Politik und um das Phänomen Dovifat.
Warum sind Sie nicht Diplomat geworden, sondern Politikwissenschaftler?
Als Studentenvertreter war ich sehr viel international unterwegs. In Griechenland, in Tunesien, später in Algerien, in West-Afrika, in Asien. Ich habe ein gutes Dutzend deutsche Botschaften gesehen, habe mit den Leuten dort reden können und Berichte geschrieben. Normalerweise hat man ja vorher nicht die Chance, so einen Verein von innen kennen zu lernen, bevor man Mitglied ist. Es war frustrierend zu sehen, wie gute Leute sich abrackerten, verschlissen wurden und am Ende nur noch auf Cocktail-Partys gegangen sind. Mein Interesse war danach weg. Ich habe trotzdem noch das Jura-Examen gemacht. Aus Prinzip. Was man angefangen hat, das sollte man zu Ende machen. Auch wenn man nicht Anwalt oder Richter werden will. Ich habe mich auch weiter für internationale Politik interessiert. Dann aber nicht mehr für die Praxis im Auswärtigen Dienst, sondern für das Forschungsfeld.
Sie haben dann in Köln Sozialwissenschaften studiert.
Im Zweitstudium. Damals war Erwin Scheuch gerade aus Harvard zurück und von René König als große Hoffnung für die empirische Sozialforschung in Deutschland an Bord geholt worden. Scheuch war der erste modern ausgebildete Sozialwissenschaftler. Ich hatte relativ schnell Anschluss an seine Gruppe. Junge Leute, die man bis heute kennt. Hans-Dieter Klingemann, Max Kaase, Burkhard Strümpel. Der intellektuelle Austausch war sehr intensiv. Fast jede Woche war irgendein Seminar mit irgendeinem durchreisenden Amerikaner. Das war ungeheuer animierend und motivierend. Mir wurde allerdings bald klar, dass man nach Amerika gehen musste, wenn man wirklich moderne sozialwissenschaftliche Methoden lernen wollte.
Hatten Sie das nicht schon in Princeton erlebt?
Princeton war ganz traditionell, und außerdem ein paar Jahre früher. Dort gab es keine empirisch- sozialwissenschaftliche Abteilung. An der Woodrow Wilson School wurde Politikberatung gemacht. In Köln habe ich mich dann bemüht, irgendwie nach Amerika zu kommen, um dort Sozialforschung zu studieren.
Weil dort die Wurzeln lagen?
Weil es in Deutschland keine vergleichbare Möglichkeit gab. In Köln bei Erwin Scheuch ein bisschen, aber das war es dann auch schon. Dort wurden zwar auch angewandte Methoden gelehrt, und es gab auch schon einige Forschungsprojekte, aber es wurde vor allem diskutiert. Eher ein Salon-Umfeld. Immerhin hat René König ein ganzes Handbuch geschrieben über empirische Sozialforschung (König 1962) und die Richtung sehr gefördert. Aber diese Leute standen nicht in den Gräben der täglichen Forschungsroutine. Meinen Statistik-Schein habe ich bei einem ganz normalen, mathematisch orientierten Statistiker gemacht.
Haben Sie in Köln noch etwas von der Studentenbewegung mitbekommen?
Später aus der Ferne, aus Amerika. Man hat aber schon gemerkt, was in der Universität läuft. Die erste Zeit war ich noch öfter in Köln und ab 1970 dann für die Dissertation mindestens einmal im Jahr in Berlin. Mein Projekt wurde vom Berliner Senat gefördert. Es ging um die politische Moral der West-Berliner im Kalten Krieg: Wie verändern sich die Einstellungen zu den Alliierten, zu den Politikern, zur Zukunft unter Druck von außen? Der Senat hatte regelmäßig Umfragen in Auftrag gegeben und so ganz nebenbei eine wunderbare Daten-Zeitreihe produziert. 30, 35 Umfragen aus zehn Jahren. Ich konnte dort all meine Interessen verbinden: internationale Politik, komplexe Methoden, öffentliche Meinung. Ich hatte sogar einmal Kontakt zum Institut für Publizistik. Der erste Kontakt zum Fach überhaupt. Eher schockierend.
Warum schockierend?
Ich wollte eine Presseauswertung machen lassen, vielleicht von einem Studenten, der sich so seine Magisterarbeit finanziert. Ich habe deshalb beim Institutsdirektor angerufen. Der hat eine halbe Minute gestottert und mich dann mit der studentischen Vertretung verbunden. Als ich die University of Michigan erwähnte, sprach die Frauenstimme am anderen Ende der Leitung gleich von CIA-Forschungen. Ich habe sie beruhigt und gesagt, dass sie das wohl mit der Michigan State University verwechsle und dass der Berliner Senat das Projekt finanziere. Die Reaktion: Ich wisse doch sicher, dass man mit dem Senat auf Kriegsfuß stehe. In meiner Naivität habe ich geantwortet, dass uns dort niemand hineinrede. Außerdem sei es doch auch für die Studenten sicher interessant zu sehen, wie viel Einfluss die Springer-Presse tatsächlich auf die politische Moral der Bevölkerung hat. Was dann kam, war für mich ein Schock: Dass die Springer-Presse hetzt, das wisse man doch, das müsse man nicht erst erforschen. Sie hat mir dann zugesagt, mein Anliegen im Institutsrat vorzubringen und mir zu melden, wenn es einen Studenten geben sollte, der bereit sei, sich für so etwas zu „prostituieren“. Ich habe natürlich nie wieder etwas von ihr gehört. Als ich 1986 nach Berlin kam, fiel mir der Vorfall wieder ein, und mir wurde klar, wer damals Institutsdirektor gewesen sein muss. Sozusagen einer meiner Vorgänger.
Hätten Sie sich Anfang der 1970er Jahre vorstellen können, als Professor nach Deutschland zurückzukommen?
Das war ursprünglich der Plan. Ich wollte drei Jahre in die USA, dort promovieren und dann hier als junger Wilder mit amerikanischer Ausbildung und quantitativen Methoden der Sozialforschung groß wieder einsteigen. So schnell ging es dann aber doch nicht. Dafür habe ich neben dem Studium zu viele Sachen gemacht. Forschung, Programmleitung, Finanzen organisieren, Lehre. In Michigan habe ich schon im zweiten Jahr Methodenkurse gegeben und dann jahrelang das Sommerprogramm für quantitative Methoden geleitet. Da kamen jedes Jahr 120, 130 Leute von Universitäten aus dem ganzen Land und auch aus Europa. Auch in den USA war es bis in die 1970er Jahre keineswegs selbstverständlich, eine fundierte Methodenausbildung anzubieten. Es gab gar nicht genug Professoren, die das hätten lehren können. In Europa erst recht nicht. Deshalb kamen die künftigen Dozenten zu uns nach Michigan. Als Leiter eines solchen Sommerprogramms war man weithin sichtbar und vielen bekannt. In Michigan ist dann etwas passiert, was auch in Amerika unüblich ist: Als ich mit meinem PhD fertig war und eigentlich nach Deutschland hätte zurückgehen sollen, wurde mir angeboten, mich auf eine Professur zu bewerben.
Gab es damals schon Kontakt zur deutschen Publizistikwissenschaft?
Das Fach hatte ich noch gar nicht auf dem Radarschirm. Es gab aber Kontakte zu den Nachwuchsleuten aus anderen Sozialwissenschaften, zu Max Kaase, Hans-Dieter Klingemann, Franz-Urban Pappi, Jürgen Falter, Fritz Scharpf, Klaus Allerbeck. Die waren alle in Michigan oder in Essex. Eine ganze Generation von Sozialwissenschaftlern, die hier dann später die Lehrstühle bevölkert hat. Dort ist auch ein persönliches Netzwerk entstanden.
Haben Sie Elisabeth Noelle-Neumann erst in Chicago kennen gelernt?
Ich hatte sie schon vorher getroffen. Das erste Mal, glaube ich, 1973 auf einem WAPOR-Kongress in Budapest. Danach auch manchmal bei anderen Gelegenheiten. In Chicago war sie ab und zu als Gastdozentin. Wenn Sie auf den Link zur Publizistikwissenschaft hinauswollen: Ich hatte schon in Michigan an Wahlstudien mitgearbeitet. Wenn man fragt, wie politische Einstellungen zustande kommen und wie Meinungsbildung funktioniert, dann braucht man nicht lange, um auf die Medien zu stoßen. Für Lazarsfeld waren diese Fragen ganz zentral. Danach sind sie in der Wahlforschung aber verschüttet worden. Ich habe mich immer weniger für internationale Beziehungen interessiert und immer mehr für politische Einstellungen und die öffentliche Meinung und damit für Medienwirkungen. In Chicago habe ich bis zum letzten Tag Medienwirkungsforschung betrieben – als Politologe im Department of Political Science.
Warum sind Sie nach Deutschland zurückgegangen?
Reiner Zufall. Ich wollte das eigentlich schon längst nicht mehr.
Warum verlässt man nach 20 Jahren Amerika, wo man etwas erreicht hat, wo man eine Position hat, und geht dann ausgerechnet nach Berlin, an den Rand der Republik?
Für mich war Berlin überhaupt nicht am Rand. Außerdem läuft in Amerika eine wissenschaftliche Karriere etwas anders. Man beschäftigt sich etliche Jahre mit Forschungsprojekten und Publikationen und überlegt dann mit 45, was als nächstes kommt. Noch ein Projekt, noch ein Buch und am Ende die Pension? Oder eine institutionelle Karriere: Leiter eines Instituts, Uni-Präsident, Dekan. Das Angebot aus Berlin kam für mich eigentlich fünf oder zehn Jahre zu früh. Ich hatte relativ viel Zeit in Lehre und Organisation gesteckt und zu wenig in die Forschung und wollte jetzt endlich einmal zwei oder drei Projekte zu Ende bringen und publizieren. Berlin hat diese Lebensplanung umgestoßen.
Warum haben Sie Ihre Planung umstoßen lassen?
Grundsätzlich war ich ja nicht abgeneigt, ein Institut aufzubauen. In Berlin gab es damals praktisch nichts, das Institut war mehr oder weniger am Ende. Ich habe mir dann gesagt, dass man sich bei solchen Aufgaben das Timing nicht aussuchen kann. Ich habe auch eine Gestaltungsmöglichkeit gesehen. Und natürlich die Hoffnung, anschließend doch wieder forschen zu können. Berlin hat mich ohnehin schon immer gereizt. Schon seit meiner Studienzeit. Ich hätte mir die Rückkehr allerdings nie zugetraut ohne das Netzwerk aus Kölner Zeiten und ohne die transatlantischen Kontakte aus der Michigan-Zeit. Wenn ich diese Kollegen nicht gekannt hätte, wäre ich hier sicher verloren gewesen. Sie haben mich ermuntert und mir versichert, das sei alles schon nicht so schlimm. Im Fach hatte ich nur einige zufällige Kontakte. Klaus Schönbach zum Beispiel. Wolfgang Donsbach hatte mich einmal in Chicago besucht.
Haben Sie sich in Berlin beworben?
Ich bin angesprochen worden. Das ist auch in Amerika üblich. Wenn Sie erst einmal in einer Disziplin etabliert sind, dann werden Sie sich nicht mehr unaufgefordert bewerben. Dann wird Sie jemand bitten.
Wer hat Sie angesprochen?
Elisabeth Noelle-Neumann. Man hat mir gesagt, dass das Berliner Institut ziemlich herunter-gekommen sei. Die Folgen von 68 hatten voll durchgeschlagen. Die Wissenschaftsverwaltung wollte die Berliner Publizistik aber erhalten und das Institut auf internationalem Niveau neu aufbauen. Es gab eine Experten-Kommission, mit Elisabeth Noelle-Neumann, Ulrich Saxer, Joachim Fest. Diese Kommission hat eine Blockberufung empfohlen, am besten aus dem Ausland. Mit solchen Blockberufungen gab es an der Freien Universität Erfahrungen. Peter Glotz hatte als Wissenschaftssenator so zum Beispiel die Philosophie neu belebt (vgl. Glotz 2005: 165-175). Sein Nachfolger Kewenig wollte sich wohl auch eine Feder an den Hut stecken und die Publizistik „sanieren“. Bei einem ihrer Chicago-Besuche kam Elisabeth Noelle-Neumann damals auf mich zu und fragte, ob ich nicht interessiert wäre. Ein modernes, international ausgerichtetes sozialwissenschaftliches Institut an der FU Berlin, das war natürlich reizvoll. Es hieß, dass erst drei Eckprofessuren im Block berufen werden sollten und dass dann im Bereich der empirisch-sozialwissenschaftlichen Publizistik noch zwei weitere Stellen zu besetzen wären, um alles auf die neue Schiene bringen zu können. Ich war damals zu naiv. Das hat sich so nicht realisieren lassen.
Warum nicht?
Ich war gerade ein paar Tage hier in Berlin, als wieder einmal zwölf Millionen Mark im Haushalt gefehlt haben. Stellenstopp. Ich wurde beruhigt. Kewenig wolle einen Neuanfang, und das gehe zur Not auch am Stellenstopp vorbei. Kurz danach gab es die so genannte Antes-Krise. Eine Riesen-Korruptionsaffäre im Berliner Senat, mit Folgen: Kewenig wurde Innensenator. Für den neuen Wissenschaftssenator war die Publizistik ein Fach wie jedes andere. Und ich war plötzlich einer von vielen – ohne die besondere Unterstützung für einen personellen Neuaufbau. Es wäre eigentlich rational gewesen, das Experiment Berlin abzubrechen und nach einem Gastsemester wieder zurück zu gehen. In Chicago hatte ich mich ja vorerst nur beurlauben lassen. Ich habe mir dann aber wohl selbst in die Tasche gelogen und gedacht, na, es wird schon irgendwie werden. Wenn wir die nächste Berufung nicht sofort hinbekommen, dann eben ein Jahr später. Das Umfeld im Haus war allerdings absolut feindlich.
Gegenüber dem Amerikaner oder gegenüber dem Empiriker?
Vor allem gegenüber dem Empiriker. Absolute Ablehnung. Auch von den beiden Kollegen aus der Blockberufung. Die waren für mich ein zusätzliches Problem. In Amerika ist es trotz fehlender Hierarchietradition undenkbar, dass jemand von null auf hundert zum Full Professor wird. Erst wird man Assistant Professor, dann Associate Professor, und zwischendurch hat man sich bewährt. Die beiden Kollegen, die mit mir berufen wurden, sind von null auf hundert katapultiert worden. Das heißt nicht, dass die Leute schlecht sein müssen, aber aus amerikanischer Perspektive wäre eine solche Entscheidung vollkommen unverständlich. Die Leute müssen sich doch erst einmal bewähren. Die beiden haben in Berlin gegen die Empirie intrigiert. Der linke Mittelbau sowieso. In so einer Gremien-Universität hat es dann viel länger gedauert, etwas zu bewegen, als ich mir das in meiner Naivität vorgestellt hatte. Ursprünglich hatte ich für den Aufbau 18 Monate angesetzt. 18 Monate ohne wissenschaftliche Produktivität. Auf die dritte empirische Professur warten wir immer noch. Nach mehr als 19 Jahren. Obwohl sie seit je im Strukturplan steht.
Auch die Besetzung des zweiten Lehrstuhls hat sehr lange gedauert.
Ich wollte Schritt für Schritt vorgehen. Erst die zweite Stelle besetzen und dann gemeinsam schauen, wo es gute Leute für die dritte gibt. Nach der Verzögerung musste ich erst einmal die ursprüngliche C3-Stelle in eine C4-Stelle umgewandelt bekommen. Dann konnten wir sie 1988 endlich ausschreiben. Ich wollte gern Klaus Schönbach haben. Einen Kollegen, bei dem man nicht misstrauisch über die Schulter gucken muss, sondern der dem entsprach, wie ich es ich aus Amerika kannte, wo man normalerweise wissenschaftlich zusammenarbeitet und sich nicht politisch bekämpft. An guten amerikanischen Universitäten will man möglichst Top-Leute berufen, damit alle sagen, Mensch, das ist ja ein toller Laden. In letzter Minute hatte sich auch noch Winfried Schulz beworben. Ein mir genauso willkommener Kollege, an den ich gar nicht gedacht hatte. Schönbachs Lehrer. Er konnte auf der Liste ja schlecht hinter Schönbach stehen. Die Verwaltung der FU hat aber nicht verstanden, dass das eine einmalige Chance war, einen Senior des Fachs an Land zu ziehen. Die haben es schlicht verbockt. Das Bleibe-Angebot für Schulz aus Nürnberg war besser. Also zurück zu Plan A: Schönbach. Er wäre gern gekommen, und eigentlich war alles schon in trockenen Tüchern. Im letzten Moment wurde ihm aber in Hannover soviel geboten, dass er schlecht nein sagen konnte. Dann gab es noch Manfred Küchler aus New York, ein Soziologe, aber ein toller Methodologe. Auch er wollte auf jeden Fall kommen, ist dann aber im letzten Moment aufgrund einer persönlichen Krise geblieben. Es war wie im Kino.
Und dann?
Ich war fünf Jahre da und immer noch nicht weiter. Wir haben dann einen letzten Versuch unternommen und beide Stellen gleichzeitig ausgeschrieben. Eine als C4-Professur für Methoden, eine als C3-Professur mit dem Schwerpunkt internationaler Vergleich. Es gab eine gemeinsame Kommission. Für die C3-Stelle war Wolfgang Donsbach prädestiniert. Er war damals schon hier als Gastdozent und sehr interessiert. Auf der C4-Liste stand Hans-Jürgen Weiß vorn. Aber es gab aber wieder Querschüsse im Haus. Von den Kollegen wurde sogar ein gemeinsamer Brief an den Wissenschaftssenator geschrieben mit dem Vorschlag, Donsbach auf die C4-MethodensteIle zu setzen, um Weiß rauszukegeln. Dadurch hat sich das Verfahren weiter verzögert. Als wir nach gut acht Monaten endlich so weit waren, hatte Donsbach ein Angebot für einen Lehrstuhl in Dresden. Es gab wieder einmal Haushaltssperren, und außerdem musste die FU schrumpfen wegen der Wiedervereinigung. Hans-Jürgen Weiß haben wir dann zwar endlich bekommen, Gott sei Dank. Aber die dritte Stelle ging den Bach hinunter. Das verdanke ich den lieben Kollegen hier im Hause.
Ging es bei diesen Kämpfen nur um solche Berufungen?
Als ich herkam, gab es keine Studienordnung. Wir haben anderthalb Jahre gebraucht, um diese lächerliche Ordnung zustande zu bringen. Ich weiß nicht, wie viele Stunden von wie vielen Menschen dort vergeudet worden sind. 1988 ist die Studienordnung dann verabschiedet worden, unter meinem Vorsitz als Dekan. Ich hatte den Posten übernommen, zur Schadensbegrenzung. Außerdem war ich damals Vorsitzender der FU-Forschungskommission, um die Uni-Strukturen von innen kennen zu lernen. Nicht auszudenken, wenn jemand anders Dekan gewesen wäre. Ich habe damals sicher ein Drittel meiner Zeit verwendet, um ständig neue Flächenbrände auszutreten. Die Studienordnung habe ich am Ende nur durchbekommen, weil ich morgens im Fachbereichsrat darauf bestanden hatte, wir gehen hier erst raus, wenn der letzte Paragraph steht. Wir saßen bis nachts halb drei. Wenn ich so etwas meinen Kollegen in Amerika erzählt habe, hat mir keiner geglaubt.
Sie haben schon auf den linken Mittelbau hingewiesen. Waren Sie selbst parteipolitisch erkennbar?
Ich bin nie parteipolitisch gebunden gewesen. Bis heute nicht. Ich bin ja nicht beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
Ihre Schüler loben vor allem Ihre Methodenveranstaltungen. Was machen Sie anders als andere?
Eigentlich gar nichts. Vielleicht habe ich mehr Erfahrungen, was funktioniert und was nicht. Ich mache solche Veranstaltungen ja seit dem Sommerprogramm in Michigan. Damals sind wir davon ausgegangen, dass Methoden keine trockene Materie sein dürfen. Eigentlich geht es dabei ja um die Anwendung, und auch bei der Statistik zum Beispiel nicht in erster Line um Statistik, sondern um logisches Denken und inhaltliche Modelle. Aber auch in meinen Statistikveranstaltungen springen Leute ab, egal was ich mache.
Sind Ihnen ein gelungenes Seminar, eine gelungene Abschlussarbeit oder ein Schüler, der das Handwerk beherrscht, wichtiger als ein Aufsatz?
Eigentlich nicht. Trotzdem ist mein Schriftenverzeichnis natürlich, um mit Loriot zu sprechen, sehr übersichtlich, jedenfalls was die Quantität angeht. Als ich jetzt pensioniert wurde, habe ich mich gefreut, demnächst endlich die Dinge tun und schreiben zu können, die ich viele Jahre lang nicht getan und geschrieben habe.
Warum haben Sie dann trotzdem weiter gelehrt?
Ich bin durch meine Zeit in den USA anders sozialisiert. Ich kann nicht sagen, die Lehre ist mir eigentlich Wurst, ich mache meine Projekte, ich schreibe meine Artikel, und um den Rest sollen sich meine Assistenten kümmern. Auch an renommierten amerikanischen Forschungsuniversitäten wie Chicago, Michigan oder Stanford hat man eine Verantwortung für die Ausbildung. Man kann doch die Studenten nicht im Stich lassen. Ausbildung ist eine Pflicht und keine Kür. Ich habe diese Pflicht eher nach preußisch-amerikanischem Pflichtbewusstsein wahrgenommen, obwohl ich eigentlich lieber am Computer mit Daten arbeite. Nach Erreichen der Altersgrenze wurde meine Pensionierung auf Bitten des Instituts zweimal um ein Jahr hinausgeschoben, weil meine Stelle vakant geblieben war. Sie ist immer noch nicht besetzt. Ich hätte natürlich sagen können, die Universität hat es in den Sand gesetzt. Wenn die Stelle nicht ausgeschrieben wird, dann ist das nicht mein Problem, sollen die Studenten sehen, wie sie zurechtkommen. Es war schließlich seit Jahren bekannt, wann ich pensioniert werde. Das habe ich aber nicht über das Herz gebracht.
Viele Empiriker im Fach haben eigene kommerzielle Institute gegründet. Hat Sie die angewandte Forschung nie gereizt?
Sie hat mich sehr gereizt. Ich habe ja auch als Berater gearbeitet, für SPSS, Forsa, Burda. Ich habe auch kleinere Projekte für Medienunternehmen gemacht. Für mehr hat mir meine Situation an der Universität einfach keine Zeit gelassen.
Bereuen Sie im Rückblick den Schritt nach Berlin?
Eigentlich nicht. Meine Frau würde sagen, sonst hätten wir uns gar nicht kennen gelernt. Natürlich hat mich bekümmert, dass ich viele Sachen nicht machen konnte, gerade im wissenschaftlichen Bereich. Ich war allerdings auch nie besonders gut im Delegieren. Vielleicht auch ein Erbe aus Amerika. Dort arbeitet der Professor noch selbst am Computer. In Amerika gibt es weder Mittelbau noch deutsche Hochschulgesetze oder Verwaltungsapparate. Ich kam hierher in dem Glauben, eine Universität sei eine Stätte für Forschung und Lehre. In Berlin habe ich gelernt: eine Universität ist zunächst einmal eine Behörde.
Gibt es im Rückblick etwas, worauf Sie besonders stolz sind?
Ich freue mich schon sehr, dass ich es zusammen mit Hans-Jürgen Weiß geschafft habe, in Berlin die Basis für eine sozialwissenschaftlich orientierte Publizistikwissenschaft zu legen. Wenn auch längst nicht alle Träume in Erfüllung gegangen sind. Ich hätte mir zum Beispiel gewünscht, dass dieser Bereich im Profil des Hauses ein stärkeres Gewicht bekommt.
Was bleibt von Lutz Erbring in der Kommunikationswissenschaft? Was sollte bleiben, wenn Sie Einfluss darauf hätten?
Das kann ich so nicht beantworten. Ich hoffe, dass die Infrastruktur überlebt, die wir hier in Berlin geschaffen haben. Einschließlich der besonderen Methodenkompetenz. Und dann freut mich natürlich, Mitarbeiter und Absolventen zu haben, die im Fach Karriere machen und so auch meinen Namen weitertragen, indem sie selbst etwas zustande bringen.
Lutz Erbring: Ausbildung ist Pflicht und keine Kür. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2022. http://blexkom.halemverlag.de/erbring-interview/ (Datum des Zugriffs).
Der Beitrag Lutz Erbring: Ausbildung ist Pflicht und keine Kür erschien zuerst auf Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft.
]]>Der Beitrag Lutz Erbring: Eine Würdigung erschien zuerst auf Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft.
]]>Liebe Kolleginnen und Kollegen, lieber Hans-Jürgen Weiß, liebe Katharina Mensing!
Was bin ich froh, dass wir hier von Angesicht zu Angesicht zusammenkommen können, um uns an Lutz Erbring zu erinnern! Das ist alles andere als selbstverständlich. Und was bin ich dankbar, dass ich mein uraltes Versprechen einlösen kann, die Persönlichkeit von Lutz Erbring zu würdigen! Der Rahmen dafür ist ein Symposium zu seinem Gedenken. Mir wäre sehr viel lieber, der Rahmen wäre eine Feier zu seinem 90. oder besser noch zu seinem 99. Geburtstag – dem Geburtstag mit der höchsten Quersumme, die ein Mensch erreichen kann. Das hätte den Zahlenfreund Lutz gut gefallen. Ein solcher Szenenwechsel von einer Gedenkfeier zu einer Geburtstagsfeier ändert nichts, aber auch gar nichts an meiner Würdigung. Es könnte mich aber jetzt sehr entlasten.
Und deshalb gestatten Sie mir bitte diese kontrafaktische Unterstellung. Ich tue jetzt einfach mal so, als säße Lutz da in der ersten Reihe. Er schaut mich mit blitzenden Augen an und streicht sich durch den weißen Schopf. Katharina hat ihn bei der Wahl seiner Garderobe kompetent beraten. Ab und zu sehe ich an seiner Stirn, dass er einen Punkt deutlich anders sieht als ich, aber ich freue mich schon auf den kräftigen Schulterschlag hinterher.
Unser Gedächtnis ist ein guter Ratgeber, was sich zu erinnern lohnt. Was ich vergesse, das kann ich vergessen. Was prägt, das bleibt. Meine erste Begegnung mit Dir, mein lieber Lutz, ist mehr als 30 Jahre her. Das war in den langen, breiten, flachen Lankwitzer Fluren, von denen unzählige Einzelbüros abgingen, die grauen Türen fast alle auch im laufenden Semester geschlossen. Nur eine Tür stand offen im dritten Stock von Haus L, also von Haus Lutz, und an der Tür von L 333 – Quersumme 9! – hing ein Schild: „Come in! We’re open!“ Und vom Flur aus konnte man durch das Sekretariat hindurchsehen, damals noch nicht von Daphne Stelter besetzt. Man sah durch die zweite Tür jemanden am Schreibtisch, der diese Aufforderung offensichtlich ernst meinte, mit Rollkragenpullover, die Stiefeletten auf dem Beistelltisch, den Blick neugierig auf mich gerichtet, der ich dezent anklopfte und mich vorstellte als Geschäftsführer des Studiengangs Journalisten-Weiterbildung, also als jemand, der in der universitären Statusskala dem Hausmeister näher war als dem Ordinarius. Aufspringen, kräftiger Handschlag, rechte Hand weist auf Stuhl, linke Hand rückt Stuhl zurecht, Beine jetzt unter dem Tisch. Sofort ganz im Gespräch, kein Blick mehr auf den Bildschirm. Fragen nach dem Woher und Wohin, aber kein Ausforschen, kein Abchecken, kein Absichern, kein Einspannen. Launige Bemerkungen, die austesten, ob es einen beiderseits begehbaren Humorboden gibt. Die Zeit verfliegt, ich sitze länger als geplant, ich mache mich behutsam los, das Wort „Anschlusstermin“ gibt es noch nicht. Ich murmele etwas von „Verabredung“. Und ich denke: So kann es auch gehen, und es geht gut so.
Einige weitere Begegnungen mit Dir, Lutz, in den späten 1980ern waren nicht ganz so entspannt, vor allem, wenn es um Deadlines ging, an denen nicht zu rütteln war – wenn beispielsweise Gutachten zu Abschlussarbeiten abzugeben waren, und zwar vor einem fixen Prüfungstermin. Da kamen dann bei Dir doch oft andere interessante Gespräche dazwischen oder eines der zahlreichen Scharmützel im Institut, im Fachbereich oder in der Universität. Nicht nur ich hatte es dann bald raus, dass man solche Terminprobleme notfalls mit Hilfe von Katharina löste. Und wenn ich dann Dein Gutachten endlich kurz vor knapp aus dem Fax zog, Zeitstempel 4:26 Uhr, AM, nicht PM!, dann sah ich: Das Warten und Bangen hatten sich gelohnt, nicht nur für den Prüfling, sondern auch für den Mitprüfer.
Ziselierte Beurteilungen auf den Punkt und individuell, heute würde man sagen tailored messages. Textbausteine waren Deine Sache nicht. Scoring auf Skalen auch nicht. Standardfragen und Standardantworten bei Prüfungen ebenso wenig. Die Massenuniversität war nicht Dein Habitat. Andere haben das aufgefangen, sind eingesprungen, haben geholfen, aber sie waren nicht böse drum. Manchmal knirschten Zähne, aber die Augen lachten.
Woher kommt diese offene, zugewandte Art, wo hast Du das gelernt? Kenneth Branagh, einer der diesjährigen Oskar-Favoriten, hat die Antwort auf den Punkt gebracht: „Wir alle haben eine Geschichte. Sie unterscheidet sich von anderen nicht dadurch, wie sie endet, sondern dadurch, wo sie beginnt.“ Und Deine Geschichte, Lutz, beginnt nicht in Leipzig, wo Du geboren bist, oder in Köln, wo Du die Schule besucht hast und eine Zeit lang durchaus studiert hast, mit heißem Bemüh‘n.
Deine Geschichte beginnt in Ann Arbor in Michigan, einem der Vereinigten Staaten von Amerika. Dieser Ort mit der dort ansässigen University of Michigan hat Dich am meisten geprägt, Dein Denken, Dein Handeln, Deinen Habitus. Du hast das zeit Deines Lebens zelebriert – von A wie Amischlitten, ein Chrysler Le Baron, bis Z wie Zeitung, die New York Times. Dein Sprechen ist mit Amerikanismen gewürzt. Wir haben uns schnell daran gewöhnt, weil es unprätentiös ist. Und ab und an coverten wir auch etwas, aber das war dann doch oft gekünstelt und nicht mit Deiner Lässigkeit eingestreut. Ich höre Dich noch: „A-People hire A-People, B-People hire C-People.“ Das fand ich cool, habe es dann zweimal welt- und beiläufig in eine Runde geworfen, ohne jegliche Reaktion, es passte eben nicht zu mir. Dann habe ich es gelassen. Amerikaphilie war in den 1980ern etwas Exotisches. Die USA unter Ronald Reagan waren der Erzfeind, das Böse schlechthin. In Deutschland wurde der Vietnamkrieg immer noch weitergeführt. Es gab wenige, die nicht nur die Pershings sahen, sondern auch die SS20, und die meisten dieser wenigen achteten sehr auf Äquidistanz zwischen Washington und Moskau. Du aber wusstest auch damals, wo Dein politischer Platz ist. Du hast immer für die liberale Demokratie gebrannt, jede Einschränkung individueller Freiheitsrechte bekämpft, die „balance of power“ verteidigt, als wäre das Deine eigene Erfindung. Und sie war ja auch Teil Deiner DNA. Und wie oft habe ich Dir Recht geben müssen, widerwillig zwar, aber aus Einsicht in gute Gründe. Mit Habermas hast Du nichts am Hut, aber wie er setzt Du ausschließlich auf die „Kraft des besseren Arguments“.
Auch in Deiner Wissenschaftlichkeit haben Dich die USA geprägt. Dies zeigt sich in Deiner unbefangenen Begeisterung für technische Neuerungen, im Drang, zu den early adopters zu gehören, bloß nicht zu den laggards. Du warst der Erste aus meinem Umkreis, der irgendetwas mit diesem Internet machte. Und diese Prägung zeigt sich auch in Deinen klaren Vorstellungen, wie man akademische Karriere macht, wie man Studenten und Mitarbeiter aussucht und wie eine Universität funktionieren kann, wie man miteinander umgeht zwischen Kollegen und zwischen Lernenden und Lehrenden, nämlich fair. Vor allem aber zeigt sich diese Prägung in Deiner methodologischen Strenge. Du bist ein Meisterschüler von Karl Raimund Popper; da ist kein Funken von Sympathie für Paul Feyerabends „Anything goes“. Du bist der personifizierte Kritische Rationalismus und damit markierst Du den Gegenpol zum deutschen Idealismus, an dem man sich wärmen, aber vor allem auch verbrennen kann. Dabei ist das Besondere an Dir: Du vertreibst das Fühlen und Sehnen aus dem Reich der Wissenschaft mit Inbrunst. Du bist ein emphatischer Rationalist. Das hat etwas Paradoxes und ist deshalb faszinierend. Und unbedingt Distanz zu halten zwischen empirischer Analyse und normativen Überlegungen – das ist Deine Norm, Dein ehernes Gesetz. Sein und Sollen sind scharf zu trennen – das sollte überall und immer so sein. Da kannst Du schon mal scharf werden, nahezu so scharf wie Deine Saucen. Du hast methodische Strenge gelebt und Du hast dafür gebrannt. Dadurch hast Du geleuchtet.
Und das hat gewirkt, wie Du heute in den Vorträgen hören und sehen und ja, fühlen konntest. Die Vortragenden heute sind schillernde Beispiele dafür, wie Deine Mission weitergetragen wird. Du hast Volker Gehrau, Benjamin Fretwurst, Anke Wonneberger, Jens Wolling, Merja Mahrt und etlichen anderen das Rüstzeug mitgegeben, das kleine und das große Einmaleins der quantitativen empirischen Sozialforschung, ein Instrumentarium, mit dem sie arbeiten können. Aber viel mehr noch: Du hast ihnen den Geist gegeben, Du würdest sagen, den spirit.
Durch Deine Lehre hast Du gewirkt, Du warst ein leidenschaftlicher Hochschullehrer. Du hast das Rollenportfolio des deutschen Universitätsprofessors auf Deine Weise gewichtet und die Lehre ganz stark gemacht – auf Deine eigene unvergessliche Weise, selbstverständlich an der Tafel, mit nichts als Kreide und Lappen, ohne Folien, ohne Punkt und ohne Komma. Leidenschaft, die Wissen schafft, das Leiden schafft. Ja, das Leiden schafft, denn es war enorm herausfordernd, Deinen Ansprüchen zu genügen. Dein Ziel bei den Methodenvorlesungen und bei der Methodenberatung war immer: Die Studierenden sollten statistische Verfahren nicht nur anwenden können, sie sollten sie verstehen, begreifen. Sie sollten den Motor nicht nur an- und ausschalten können, sie sollten ihn auseinandernehmen und wieder zusammensetzen können. Sie sollten durchdringen, was bei einer Regressionsanalyse oder einer Zeitreihenanalyse geschieht. Sie sollten die mathematische Herleitung nachvollziehen können. Nur dann erkennen sie die Probleme und werden vorsichtig – und zugleich kreativ. Deine methodische Leitfrage war das Warum, nicht das Wie oder das Wofür. Diesen Anspruch haben viele nicht erfüllen wollen oder können. Aber einige hast Du damit geprägt. Sie haben Deine Begründungen nicht gepaukt, sondern zumindest im Ansatz verstanden und dadurch methodisches Denken gelernt. Du hast ihnen nachdrücklich vermittelt, dass Methoden der Datenanalyse einen Eigenwert haben, nicht nur Werkzeuge sind zur Prüfung von Hypothesen oder gar nur Funktionen eines Statistikprogramms.
Etliche von Deinen Schölern sind selbst akademische Lehrende geworden, nicht allein durch Dich, aber sicher nicht ohne Dich oder gar gegen Dich. Sie geben diesen Geist weiter an die nächste Generation, werden dabei vielleicht sogar noch ab und zu Deinen Vornamen und Deinen Nachnamen nennen. Die Enkel aber werden sich mit hoher Wahrscheinlichkeit dann nicht mehr so richtig an Deinen Namen erinnern, denn sie verbinden mit dem Namen kein Gesicht und keine Stimme und keinen Habitus. Mit dieser Kränkung muss jeder von uns leben. Aber unser individuelles und unser kollektives Gedächtnis sind nun mal sehr effizient, sie hatten ja ein paar Millionen Jahre Zeit, evolutionäre Vorteile auszubilden. Dennoch: In dem Wirken wiederum dieser Nach-Nach-Folgenden, in ihrem Tun, da wirst Du weiterwirken. Und das ist ja ein wenig tröstlich.
Begonnen habe ich mit unserer ersten Begegnung. Genauso deutlich erinnere ich mich an unsere letzte Begegnung, Lutz, auch schon wieder fast ein Jahr her. Wir saßen zu dritt auf dem schmalen ebenerdigen Balkon am Bayerischen Platz in Schöneberg. Dein Blick war offen wie immer, die Stimme fest, die Hände beredt. Und Du erzähltest über Dich selbst. Und immer reflektiertest Du Deine nicht mehr ganz so realitätstüchtigen Annahmen. Du protokolliertest laufend Deine Wahrnehmungen und berichtetest uns Deine Beobachtungen von Dir selbst. Und als ich dann einwarf, der verhasste Konstruktivismus habe Dich ja wohl doch noch in seine Fänge gezogen, da amüsierten wir uns beide. Schön war’s! Und unvergesslich.
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]]>Geboren am 23. Mai 1950 in Frankfurt am Main. 1970/71 Deutsche Journalistenschule München (9. Lehrredaktion). Studium in München (VWL, Soziologie) und Konstanz (Verwaltungswissenschaft). Freier Journalist (Süddeutsche Zeitung, Stuttgarter Zeitung). 1977 Diplom. Aufbaustudium in Konstanz und Princeton. 1980 Promotion in Konstanz (vgl. Russ-Mohl 1981). 1979 wissenschaftlicher Assistent im Studiengang Journalistik an der Universität Dortmund. 1981 Fachreferent für die Fördergebiete Wissenschaftsjournalismus, Stadtforschung und später Völkerverständigung sowie Pressereferent der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart. Lehraufträge in Hohenheim. 1985 C4-Professur für Allgemeine Publizistik mit dem Schwerpunkt organisatorische Grundlagen und redaktionelle Praxis der journalistischen Produktion. 1989 Forschungsaufenthalt an der University of Wisconsin, Madison, USA. 1992 Forschungsaufenthalt am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz, Italien. 1995, 1999, 2008 und 2015 Forschungsaufenthalte an der Stanford University, Kalifornien. Von 2002 bis 2018 Professor für Journalismus und Medienmanagement an der Università della Svizzera italiana, Lugano, Schweiz. 2004 Gründer und bis 1018 Leiter des European Journalism Observatory (EJO). Verheiratet, zwei Kinder.
Könnten Sie mir etwas über Ihr Elternhaus erzählen, über Ihre Kindheit, Ihre Jugend?
Es ist gar nicht so einfach, sich da an Details zu erinnern. Aufgewachsen bin ich in Memmingen, im schwäbischen Teil von Bayern. Meine Mutter hat als Prokuristin in einer Zigarettenfabrik gearbeitet. Sie hat mich adoptiert und war alleinerziehend.
Gab es in Memmingen eine Zigarettenfabrik?
Ja. Kosmos. Bis zum Ende des Krieges war der Standort Dresden. Meine Mutter ist mit dem Fahrrad über Tschechien nach Bayern gekommen und hat dort geholfen, die Fabrik neu aufzubauen. Ich war die ersten zehn Jahre meines Lebens in Memmingen. Ich habe dort die Volksschule besucht und war ein Jahr auf dem Gymnasium. Dann wurde die Zigarettenfabrik liquidiert. Gleichzeitig hat mein Kindermädchen geheiratet. Ich musste ins Internat und war dann neun Jahre in Marquartstein in Oberbayern.
In meinen Unterlagen steht, dass Sie in Frankfurt am Main geboren wurden.
Das stimmt. Meine Mutter wollte nicht hochschwanger durch Memmingen laufen.
Könnten Sie etwas über Ihren Vater erzählen, der dann ja offenbar versteckt werden sollte?
Den verstecke ich immer noch.
Dann war das ein vaterloser Haushalt.
So kann man das sagen. Meine Mutter hat mich gemeinsam mit dem Kindermädchen großgezogen, bis ich ins Internat kam.
Waren Sie ein Einzelkind?
Ja. Ein sehr verwöhntes.
Ein Kindermädchen war damals Luxus.
Noch mal ja. Das hat aber sicher mehr als die Hälfte des Gehalts meiner Mutter gekostet und an anderer Stelle zu Einschränkungen geführt.
Hat Politik daheim oder dann im Internat eine Rolle gespielt?
In Memmingen ganz bestimmt nicht. Einen Zehnjährigen interessiert das noch nicht. Wichtig wurde das erst später, über einen Erzieher, der zugleich Deutsch und Geschichte unterrichtet hat. Er hat versucht, uns nahezubringen, welche Aufgaben man als Bürger in einer Demokratie übernehmen sollte und dass die Freiheiten nicht selbstverständlich sind, für die ich auch heute noch kämpfe.
Könnten Sie etwas zur Ausrichtung dieses Internats sagen?
Es geht um die 1960er, im tiefsten Oberbayern, in einer katholisch geprägten Gegend. Die Schule war trotzdem in vielerlei Hinsicht progressiv. Der Direktor war sehr engagiert und über Bayern hinaus bekannt. Es gab zum Beispiel einen Austausch mit dem Eton College. Ich war ein Nutznießer und durfte dort ein Vierteljahr hin. Für mich hat sich da zum ersten Mal die Welt geöffnet. Ich kam raus aus der Kirchturmlandschaft Süddeutschlands.
Wie alt waren Sie damals?
16.
Sind Sie dort auf die Idee gekommen, Journalist zu werden?
Das kam erst später. Der Erzieher, den ich gerade schon erwähnt habe, stellte mich vor die Wahl: entweder Theatertruppe oder Schülerzeitung.
Lassen Sie mich raten: Die Zeitung war spannender.
Genau. Dort habe ich Feuer gefangen. Eton war in anderer Hinsicht ein Augenöffner. Ein stockkonservatives Internat in einem vollkommen anderen Schul- und Gesellschaftssystem.
Hat „68“ bis nach Oberbayern gereicht?
Das kam im Internat an und hat meine letzten Schuljahre geprägt. Ich war dann schon Schulsprecher. Wollen Sie meine größte Errungenschaft hören?
Klar.
Wer 18 oder älter war, durfte jetzt rauchen. Dieses Freiheitsrecht habe ich für die Mitschülerinnen und Mitschüler erkämpft (lacht). „68“ war aber trotzdem prägend. Wir wollten die Welt verändern und haben zum Beispiel gegen den Vietnamkrieg protestiert. Selbst in einem kleinen, schwarzen Dorf kam ein wenig von den Gedanken aus Berlin oder Berkeley an.
Können Sie sich noch erinnern, welchen Ruf die Deutsche Journalistenschule in München hatte, als Sie sich dort beworben haben?
Einen sehr, sehr guten. Das war damals die einzige praxisnahe Ausbildungsstätte. Es gab 1000 Bewerber auf 15 Plätze. Ich hatte das wahnsinnige Glück, einen dieser Plätze zu ergattern.
Haben Sie dafür eine Erklärung?
In der Aufnahmeprüfung haben mich die Journalisten wegen Eton gelöchert, vor allem Hermann Proebst von der Süddeutschen Zeitung. Da konnte ich brillieren. Ich hatte etwas Besonderes in meiner Biografie.
Eton dürfte sonst kaum jemand im Lebenslauf gehabt haben.
Das hat mir über die schwierigen und kritischen Fragen hinweggeholfen, die die anderen beantworten mussten.
Wer hat Sie zur Bewerbung ermuntert? Auch wieder der Schulmentor?
Das weiß ich nicht mehr. Er hat das sicher zumindest unterstützt.
Ihre Mutter?
Nein. Sie wollte, dass ich eine Banklehre mache. Von Journalismus war sie gar nicht begeistert.
War der Übergang vom Abitur zur Journalistenschule nahtlos oder gab es etwas dazwischen?
Ein Jahr Studium an der Universität München. Als die Zusage von der Schule kam, habe ich das unterbrochen, aber dann Gott sei Dank einen Mentor beim BR gefunden, der mir ganz stark geraten hat, das zu Ende zu bringen. Ich bin diesem Rat gefolgt, obwohl ich beim BR oder bei der Süddeutschen Zeitung hätte bleiben können.
Wie haben Sie Ihr doch recht langes Studium finanziert? Haben die Honorare aus dem Journalismus gereicht?
Das war immer nur ein Taschengeld. Meine Mutter hat mich sehr großzügig unterstützt. Ich hatte nie finanzielle Sorgen, weder während des Studiums noch danach. Ich weiß, dass das im Moment für junge Leute ungewöhnlich ist.
Wenn Sie Ihr Studium mit dem vergleichen müssten, was heute an Universitäten üblich ist: Wie würden Sie das angehen?
Im Rückblick gefällt mir, dass mein Studium nicht völlig durchstrukturiert und durchorganisiert war. Diese großen Freiheiten habe ich auch noch in den ersten Jahren als Professor erlebt. Geändert hat sich das erst mit Bologna. Die Verschulung halte ich für kontraproduktiv. Die jungen Leute wissen selbst am besten, was sie interessiert. Wenn sie Wahlmöglichkeiten haben, suchen sie sich das aus, was sie voranbringt.
Was hat Sie damals an Ihrer eigenen Fächerkombination fasziniert?
Zur Verwaltungswissenschaft bin ich in Konstanz gekommen. Ich wollte das Nützliche mit dem Interessanten vereinbaren. Interessant waren Soziologie und Politikwissenschaft und nützlich öffentliches Recht und VWL. All das hat sich in diesem Studium zusammengefügt, weil Fritz Scharpf, Frieder Naschold und andere der Meinung waren, dass die öffentliche Verwaltung eine neue Expertengeneration braucht. Junge Leute, die sozialwissenschaftlich ausgebildet sind und nicht juristisch.
Ist das aufgegangen?
Es gibt inzwischen solche Leute, aber an den entscheidenden Stellen haben immer noch Juristen das Monopol.
Gibt es jemanden, den Sie als Ihren akademischen Lehrer bezeichnen würden?
Promoviert habe ich bei Dietrich Fürst. Ein Regionalökonom, der mein Denken früh geprägt hat (vgl. Russ-Mohl 1981). Eine beachtliche Rolle hat für mich auch Bruno Frey gespielt, der in Konstanz ganz jung auf eine Wirtschaftsprofessur berufen worden war. Frey stand für eine neue politische Ökonomie, die nichts mit Marx zu tun hatte, und war für mich ein Antipode. Je länger ich mich an ihm gerieben habe, desto mehr habe ich von ihm gelernt. Im Rückblick sehe ich, dass er mich später mehr beeinflusst hat als während des Studiums, wo er das intellektuelle Feindbild war, mit dem ich mich auseinandersetzen wollte.
Gab es dabei einen Wendepunkt?
Das Buch über demokratische Wirtschaftspolitik, das Frey mit Gebhard Kirchgässner veröffentlicht hat (vgl. Frey/Kirchgässner 1981). Dort ging es um die Frage, wie stark demokratische Gesellschaften durch Ökonomie geprägt sind – selbst dann, wenn das längst nicht alle Betroffenen wahrhaben wollen.
Wie viel von Ihrem Doktorvater steckt heute noch in Ihrer Arbeit?
Das hat nachgelassen, als meine Berufswünsche weggingen von der Stadtplanung und hin zum Journalismus. Deshalb sind letztlich im Rückblick Leute wie Bruno Frey und Fritz Scharpf für mich wichtiger gewesen als Dietrich Fürst.
Stadtplanung steht gar nicht auf meinem Zettel. War das eine ernsthafte Option?
Ja. Stadtplanung in der öffentlichen Verwaltung. Ich habe in München ein Praktikum gemacht im Stadtentwicklungsreferat, acht Monate lang. Ich war auch kommunalpolitisch aktiv und habe mich als junger Mensch in einen Gemeinderat wählen lassen.
Wo war das?
In Pullach. In meiner Heimat, im Isartal.
Dann scheinen Sie vor der Berufung an die Freie Universität Berlin drei weitere Karrieren verfolgt zu haben. Stadtplanung, Journalismus, Stiftungsarbeit.
Eine Schlüsselfunktion hatte hier die Bosch-Stiftung. Dort wurde ein Manager für das Stadtforschungsprogramm gesucht. Als ich dort dann Referent wurde, war dieses Programm schon ziemlich verkorkst. Es gab vier Forschungsgruppen, die ich weiter werkeln lassen musste. Ich war eigentlich nur noch für das Vermarkten der Ergebnisse zuständig. Publikationen, Tagungen. Dafür hat sich aber eine neue Möglichkeit aufgetan.
Auf meinen Zettel steht Wissenschaftsjournalismus.
Ein ganz kleines Förderprogramm, ja. Das war meine Brücke auf die Professur. Ich konnte wissenschaftlich publizieren. Außer Walter Hömberg hatte sich damals noch niemand um dieses Thema gekümmert. Außerdem war wenigstens ein bisschen Geld da. Wir haben Stipendien vergeben und Praktika finanziert. Für junge Menschen war es eine tolle Sache, in die Wissenschaftsredaktion der Zeit zu kommen oder zum Bayerischen Rundfunk und ein paar Monate bei renommierten Journalisten zu lernen. Wir haben damals eine ganze Nachwuchsgeneration gefördert. Es gab das erste Lehrbuch zum Wissenschaftsjournalismus und die ersten Tagungen, zu denen wir Experten wie Sharon Dunwoody eingeflogen haben.
Wenn ich das richtig verstehe, dann wollten Sie gar nicht mehr Journalist werden.
Bis ich die Stelle bei der Bosch-Stiftung angenommen habe, war das schon eine Option. Ich habe immer wieder versucht, mit Texten auf mich aufmerksam zu machen, wenigstens mit Buchrezensionen. Irgendwann habe ich gemerkt, dass es interessanter ist, den Journalismus aus der Etappe zu fördern, als selbst in vorderster Front zu arbeiten. Tagesaktualität war nie mein Ding. Wenn überhaupt, dann wollte ich längere Riemen schreiben.
Wie haben Sie die ersten Schritte der Dortmunder Journalistenausbildung erlebt?
Puh. Die Kollegen waren damals leider ziemlich zerstritten. Es gab keinen Teamgeist. Das hat diese ersten Schritte etwas behindert. Allerdings waren alle davon überzeugt, dass man Journalisten an der Hochschule ausbilden sollte (vgl. Kopper 2010).
Lag es nur an den Menschen oder auch an den Strukturen?
Die alte Universität begünstigt Streit. Das fängt damit an, dass Professoren unkündbar sind. Sie können die Sau rauslassen, wenn sie nur wollen. Dortmund war ja bei Weitem nicht der einzige Standort im Fach, wo heftig gestritten wurde. In Münster war das viel schlimmer, mit Gerichtsverfahren. In Dortmund ging man sich eher aus dem Weg, obwohl man aus einem sozialdemokratischen NRW-Milieu kam. Das hatte schon eine Schlagseite. Damals habe ich das noch nicht so wahrgenommen. Ich war ja selbst noch in der SPD engagiert und von meinem Kampf gegen Strauß und die CSU geprägt. Habe ich die Frage beantwortet?
Im Prinzip schon. Sie waren ja nur zwei Jahre in Dortmund.
Ich bin dorthin geholt worden, um den Leuten etwas über Politik und öffentliche Verwaltung beizubringen. In die praktische Journalistenausbildung war ich gar nicht so sehr involviert.
Wie hat die Bosch-Stiftung damals unser Fach gesehen oder die Journalistenausbildung?
Vermutlich durch meine Brillengläser. Journalismus per se war für die Stiftung kein Thema. Man hatte dort das Gefühl, dass sich in Deutschland Wissenschaftsfeindlichkeit ausbreitet. Also hat man sich um die Felder gekümmert, in denen man inhaltlich etwas bewegen wollte. Gesundheitsökonomie oder Medizingeschichte zum Beispiel. Dort wurden auch gezielt Kontakte in den Journalismus aufgebaut.
Wie blicken Sie heute auf die Berliner Blockberufung von 1985 zurück?
Das war der Versuch von Wilhelm Kewenig (CDU), Peter Glotz (SPD) zu kopieren, der das als Wissenschaftssenator sehr erfolgreich bei den Philosophen durchgezogen hatte, mit drei Prominenten, die für die FU gewonnen wurden (vgl. Glotz 2005: 165-170). Kewenig wollte das im Publizistik-Institut auch deshalb machen, weil ihm klar war, dass eine Neuberufung den „linken Sumpf“ in Lankwitz nicht würde trockenlegen können. Das war jetzt ein Originalzitat (vgl. Löblich/Venema 2020). Sein Pech war, dass einer von den dreien schnell abtrünnig wurde und ins andere Lager wechselte.
Sie meinen Lutz Erbring (vgl. Erbring 2007).
Bernd Sösemann, der Zweite von den dreien, ließ vom ersten Tag an erkennen, dass er sich eher als Historiker sieht und auch dort beheimatet sein möchte. Ich war der Einzige, der übrig blieb.
Eine schwierige Position.
Ich hatte das Riesenglück, eine fantastische Ausstattung zu haben. Ich durfte den Studiengang Journalistenweiterbildung übernehmen, der alleine schon mehrere wissenschaftliche Mitarbeiter und zwei Sekretariatsstellen hatte. Ich wurde ein Objekt des Neides. Ich habe das damals überhaupt nicht begriffen. Einem Quereinsteiger ist nicht klar, wie wichtig die Ausstattung ist. Eine meiner beiden Assistentenstellen habe ich an Barbara Baerns „verschenkt“, damit sie auf eine C3-Professur nach Berlin kommt. Ich habe es einfach als große Freiheit empfunden, selbst entscheiden zu dürfen, worüber ich Bücher schreibe und was ich in den Seminaren mache. An der FU ist das bis zu meinem Abgang so geblieben.
Waren Ihnen die politischen Implikationen der Blockberufung klar?
Irgendwie schon. Die FU hatte sich nur mit Mühe von ihrer 68er-Geschichte gelöst. Kewenig war im Weizsäcker-Senat klar konservativ. Ich rechne ihm aber immer noch hoch an, mich vom dritten Listenplatz berufen zu haben – vorbei an zwei Leuten, die ihm parteipolitisch deutlich näherstanden.
Wer war vor Ihnen?
Zwei Journalisten. Ein Auslandskorrespondent mit CDU-Parteibuch und Walter von La Roche, der mein Hörfunklehrer war und mit dem ich gesegelt bin. Dass ich dann berufen wurde, war für ihn sicher schwer, aber er hat das sportlich genommen. Vielleicht hat er gesehen, dass ich wissenschaftlich eine Nasenlänge voraus war, auch wenn ich ihm journalistisch nicht das Wasser reichen konnte. Er war ja Nachrichtenchef beim Bayerischen Rundfunk.
In der Kommission waren auch Elisabeth Noelle-Neumann und Ulrich Saxer.
Kewenig hatte dafür gesorgt, dass diese beiden Externen ein gewichtiges Wort mitzureden hatten. Zu Noelle-Neumann habe ich deshalb ein anderes Verhältnis als Sie (lacht). Sie war in meine Karriere involviert. Ich glaube nicht, dass Kewenig jemanden an ihr vorbei berufen hätte. Ich war für beide Lager akzeptabel. Für Noelle und den Senator, weil ich in der Bosch-Stiftung den Wissenschaftsjournalismus gepusht und außerdem in Princeton studiert hatte. Für die anderen war ich ein ausgewiesener Sozialdemokrat, der im Vorwärts viele Artikel schrieb.
Lutz Erbring (2007: 258) hat mir vor anderthalb Jahrzehnten erzählt, dass der Mittelbau ihn als Empiriker abgelehnt hat.
Für den Zeitpunkt seiner Berufung stimmt das wahrscheinlich noch. Später hat sich das dann schnell gedreht. Die Empirie gehörte ja in Noelles Lager. Deshalb war das für viele Linke schwer zu akzeptieren. Dafür mussten erst Erbring und Hans-Jürgen Weiß kommen.
Die Journalistenweiterbildung haben Sie von Alexander von Hoffmann geerbt (vgl. Hoffmann 1997).
Er hat dem jungen Kollegen alle Steine in den Weg gelegt, die man sich nur denken kann.
Wie ist das zu erklären?
Schwierig. Dazu müssten Sie ihn fragen. Und das geht nicht mehr.
Vielleicht hilft ein Beispiel.
Er hat mir eine wirklich üble Geschichte angehängt. Ich habe die erste Professur für Wissenschaftsjournalismus an die FU geholt, mit Geldern der Bosch-Stiftung.
Winfried Göpfert, berufen 1990.
Alexander von Hoffmann hat einen bösen Artikel in die Feder lanciert, das Blatt der Deutschen Journalistenunion. Dort wurde behauptet, ich sei nur Professor geworden, weil ich die Millionen von der Stiftung versprochen hätte. Das hat überhaupt nicht gestimmt. Die Stiftung wusste nicht einmal, dass ich mich in Berlin beworben hatte. Als der Ruf kam, war man zunächst enttäuscht. Dass der Wissenschaftsjournalismus dann an einer Universität gefördert wurde, wo zumindest ein Gleichgesinnter saß, war nicht so überraschend.
Wie waren Ihre Beziehungen zur Bosch-Stiftung als Lehrstuhlinhaber?
Es gab weiter Kontakt. Ich habe Geld für einen USA-Aufenthalt bekommen und wurde auch später gefördert. Selbst in Lugano habe ich dort noch Anträge gestellt. Das hat aber nichts mit der Berufung nach Berlin zu tun. Das war üble Nachrede.
Könnten Sie Ihre anderthalb Berliner Jahrzehnte auf ein paar Schlagworte verdichten? Was sind Ihre Highlights und was war völlig anders, als Sie es sich vorgestellt hatten?
Das ist schwierig, weil das für mich alles weit zurückliegt. Ich hatte den Traum, ungestört auch zu abseitigen Themen arbeiten zu können. Qualitätssicherung im Journalismus, Medienjournalismus, auch US-Journalismus (vgl. exemplarisch Russ-Mohl 1994, 2009, 2017). Das ging damals auch ohne Hunderttausende an Drittmitteln. Ich habe die Freiheit genossen, mich auch dann um Dinge kümmern zu dürfen, die ich wichtig fand, wenn andere das für weniger wichtig hielten.
Und die Journalistenweiterbildung?
Ein toller Studiengang. Wir haben das auf neue Beine gestellt. Die interdisziplinäre Ausrichtung blieb, aber wir haben versucht, das gesamte politische Spektrum zu präsentieren. CDU-Leute genauso wie SPD-Leute. Auf diese Idee wäre Alex von Hoffmann nie gekommen. In den Seminaren wurden alle gleichermaßen kritisch angegangen. Ich wollte ja Vorbild sein für die Teilnehmer.
Hatten Sie Ihr Parteibuch noch?
Ich bin aus der SPD ausgetreten, als ich nach Berlin berufen wurde. Ich fand, dass ein Journalistenausbilder nicht in einer Partei sein darf. Außerdem wollte ich zur Parteipolitik Distanz halten. Das ist etwas anderes als der Verzicht auf politische Meinungen und Überzeugungen. Der kritische Umgang mit allen hatte einen bemerkenswerten Effekt: Ich war keinem Lager mehr zuzuordnen. Das hat sicher beschleunigt, dass der Studiengang abgewickelt wurde, kurz bevor ich nach Lugano gegangen bin. Als ich aus einem Sabbatical in Stanford zurückkam, hatten alle meine Stellen plötzlich einen KW-Vermerk. „Kann wegfallen“ und wird bei Freiwerden nicht wiederbesetzt. Mit Otfried Jarren oder Gerhard Vowe, die vorher Geschäftsführer waren, wäre das sicher nicht passiert.
Sind Sie deshalb mit Anfang 50 in die Südschweiz gegangen?
Ja. Ich hatte gehofft, den Studiengang bei Bleibeverhandlungen retten zu können. Das erwies sich sehr schnell als Illusion. Die FU-Spitze musste in der Nachwendezeit wirklich jede Stelle einsparen. Meine Professur wurde dann jahrelang nicht wiederbesetzt. Außerdem waren die Kollegen spitz auf meine Hinterlassenschaften. Axel Zerdick zum Beispiel, der gerade Dekan war, wollte meinen Schreibtisch in Dahlem. Irgendwie hatte er nicht verkraftet, dass er in Lankwitz saß und ich in einer schicken Villa (lacht).
Also gab es niemanden, der Sie halten wollte.
Genau. Außerdem gab es in Lugano starke Kräfte, die mich unbedingt holen wollten.
Würden Sie diesen Schritt mit dem Wissen von heute noch einmal wagen?
In Lugano ist dann vieles passiert, was zu meinem vorzeitigen Abgang beigetragen hat. Ich würde des trotzdem wieder machen, weil es den Horizont erweitert hat. Die Kombination von Schweiz und „italianità“ im Tessin fand ich faszinierend.
Warum ist das dann nicht wirklich aufgegangen?
Mit meiner ökonomischen und journalistischen Ausrichtung war ich an der Fakultät ziemlich allein. Auch wurden die eigene Fakultät und die Universität von einer fundamentalistisch-katholischen Gruppe kontrolliert. Das wusste ich zwar vorher, aber es wurde eher schlimmer.
Lassen Sie uns zu den Inhalten zurückkommen.
Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement waren mir von Anfang an ein großes Anliegen. Qualitätsmanagement heißt für mich auch Redaktionsmanagement. Alles, was man wissen muss, um eine Redaktion erfolgreich zu führen. In unserem Fach war das bis in die 1980er kein Thema. Im Studiengang Journalistenweiterbildung hatte ich es auch mit ehrgeizigen Nachwuchsleuten zu tun, die in Führungspositionen strebten. Ich bin immer noch stolz, wie viele das dann tatsächlich geschafft haben. Später haben das Thema dann andere aufgenommen, und ich konnte mich anderen Themen zuwenden. Die empirischen Tiefenbohrungen, die heute das Feld beherrschen, waren nicht mein Ding. Ich fand wichtiger, ein Thema anzutippen, die richtigen Fragen zu stellen und Grundlagen zu erarbeiten.
Leben wir wirklich im Zeitalter der empirischen Tiefenbohrungen?
Ich hoffe, dass das nicht die Empirie ist, die Lutz Erbring zu uns bringen wollte. Man darf natürlich die Publikationszwänge nicht vergessen. Man muss jede Studie auf fünf Aufsätze verteilen. Da geht der große Überblick schnell verloren. Die Forschung wird so über weite Strecken irrelevant. Ich fühle mich da nicht mehr zu Hause. Ich möchte zum Beispiel, dass wir uns mit Propaganda und PR auseinandersetzen, die den Journalismus inzwischen in einem nie gekannten Ausmaß beherrschen. Ich vermisse auch Positionierungen in der Öffentlichkeit. In der Corona-Zeit gab es nur eine Handvoll von Medienforschern, die sich prononciert geäußert haben.
Woran liegt es, dass dem Fach öffentliche Präsenz abgeht?
Zum Teil an den Leuten selbst. Viele wollen das gar nicht. Zum Teil liegt es aber auch an den Medien, die gezielt Dinge unterdrücken, die sie nicht wahrhaben wollen. Die Medienseiten sind ja aus guten Gründen verschwunden. Der Schaden, der dadurch entsteht, ist ein Tabu.
Sie selbst haben sich seit März 2020 mehrfach öffentlich geäußert (vgl. exemplarisch Russ-Mohl 2020). Wie war die Resonanz auf Ihre Kritik am Journalismus?
Erstaunlich gespalten. Sehr kritisch von einigen wenigen Journalisten (vgl. Bartl 2020) und sehr zustimmend von Lesern, die meine Kommentare in der NZZ oder in der Süddeutschen Zeitung gesehen haben. So viele Mails und so viel Dankbarkeit habe ich nie zuvor bekommen. Man hat gesehen, wie der Journalismus dabei ist, in seiner eigenen Blase vielleicht sogar zugrunde zu gehen. Jedenfalls nimmt man in den Redaktionen offenbar nicht mehr wahr, was draußen gesehen wird.
Lohnt sich der Aufwand für das European Journalism Observatory?
Ich persönlich habe mich da ja zurückgezogen. Im Moment würde meine Antwort Jein bis Nein lauten. Soll heißen: Das EJO ist nicht mehr das, was es werden sollte. Angedacht war eine mehrsprachige Popularisierung von Medienforschung. Daraus ist ein internationales Netzwerk von Forschungseinrichtungen entstanden. Das ist immer noch lohnend. Es gibt gelegentlich Kooperationen und gelegentlich vergleichende Texte über die Sprachgrenzen hinweg. Wie wird zum Beispiel in Italien über Corona berichtet, wie in Deutschland, wie in Frankreich und wie in Großbritannien? Das finde ich immer noch wichtig.
Das Aber schwingt schon mit.
Ich wollte pro Land und pro Sprachversion einen bezahlten, journalistisch versierten Doktoranden, der sich auf seiner Teilzeitstelle redaktionell um die Website in seiner Muttersprache kümmert. Das ist an der Finanzierung gescheitert. Es gibt jetzt noch so eine Halbtagsstelle in Dortmund und – mit weniger Stellenprozenten – auch an der City University in London. Dass sich das Reuters Institute in Oxford davongemacht hat, als die externe Finanzierung durch die Bosch-Stiftung wegfiel, war ein schwerer Verlust. Ehrenamtlich kann man so ein mehrsprachiges Projekt nicht vernünftig pflegen.
Gibt es Wissenschaftler oder Journalisten, die Sie als Vorbilder bezeichnen würden?
Natürlich. Ich habe zum Beispiel Everette Dennis nachgeeifert, der an der Columbia University ein Medienforschungszentrum aufgebaut hat, mit sehr viel mehr Geld, als ich jemals an meinem Journalistenkolleg hatte. Seine programmatischen Schwerpunkte würde ich immer noch voll und ganz unterschreiben.
Könnten Sie das skizzieren?
Dazu gehörte zum Beispiel eine eigene Fachzeitschrift, die eher Praktiker adressiert hat als Wissenschaftler. In den Seminaren saßen Forscher, Wissenschaftsadministratoren und Journalisten an einem Tisch. Mal einen Tag, mal eine Woche. Je nach Thema. Dazu viele Abendveranstaltungen mit Inputs von Columbia-Leuten, zu denen auch die Studenten eingeladen waren. Dennis war auch ein kreativer Forscher und hat all das vorgelebt, was ich selbst machen wollte.
Fällt Ihnen noch jemand ein?
Als direktes Vorbild? Es gibt natürlich viele, von denen ich gelernt habe. Dazu würde ich auch Elisabeth Noelle-Neumann zählen oder Ulrich Saxer.
Was haben Sie von diesen beiden gelernt?
Von Noelle sicher einen ersten Zugang zu Empirie und Demoskopie. Ich fand auch ihr Projekt Medientenor gut, das dann Roland Schatz umgesetzt hat. Die Idee war dort, nicht nur Bürgermeinungen systematisch zu erheben, sondern auch die veröffentlichten Meinungen.
Und Saxer?
Ihm verdanke ich Lugano. Das wiederum hat mit seinem internationalen Blick auf den Journalismus zu tun. Er wollte, dass die Studierenden dort mit verschiedenen Blickwinkeln konfrontiert werden.
Wenn Sie selbst auf ein halbes Jahrhundert in Wissenschaft und Journalismus zurückblicken: Gibt es etwas, worauf Sie besonders stolz sind?
Ich durfte an der Scharnierstelle Journalistenweiterbildung in Berlin interdisziplinär arbeiten und hatte dort die Möglichkeit, Journalisten Grundwissen aus fünf Disziplinen beizubringen. Das war eine Innovation, die heute schon deshalb nicht mehr fortzusetzen wäre, weil neben der praktischen Arbeit die Zeit fehlt, die ein solches Studium braucht. Auch auf das European Journalism Observatory bin ich nach wie vor stolz, trotz allem, was ich gerade gesagt habe. Wir haben zumindest gezeigt, was zu tun wäre, wenn die EU nicht nur Geld für PR ausgeben würde, sondern an der Glaubwürdigkeit von Journalismus interessiert wäre.
Und andersherum: Gibt es etwas, was Sie heute anders machen würden?
Puh. Das ist die viel schwierigere Frage. Vielleicht hätte ich beim EJO eher die Notbremse ziehen sollen.
Zu welchen Kollegen hatten oder haben Sie einen besonders guten Draht?
Inzwischen sicher zu Hans Mathias Kepplinger und seinen beiden Kollegen aus der Mainzer Journalistenausbildung, Volker Wolff und Tanjev Schultz, mit dem ich jetzt mein Journalismus-Lehrbuch fortschreibe (vgl. Russ-Mohl 2003). Dann zu meiner Schülerin Susanne Fengler (vgl. Fengler/Russ-Mohl 2005). International James Hamilton aus Stanford, den ich schon vorhin hätte nennen müssen bei der Frage nach den Vorbildern. Hamilton verbindet Ökonomie und Journalismus. Everette Dennis, immer noch. Klaus Schönbach. Und Gianpietro Mazzoleni, mit dem ich eng befreundet bin und der mir in Italien viele Türen geöffnet hat.
Gab es Gegner, Konkurrenten, Feinde?
Lutz Erbring. Das weiß inzwischen jeder. Axel Zerdick war auch schwierig, wenn auch konzilianter im Umgang. In Lugano gab es dann einen Kollegen, für den ich mich geschämt habe.
Was bleibt eines Tages von Stephan Russ-Mohl im Medien- und Wissenschaftsgedächtnis? Was sollte bleiben, wenn Sie es beeinflussen könnten?
Freuen würde ich mich, wenn ein paar von den Impulsen, die ich geben durfte, haften bleiben würden. Wissenschaftskommunikation und Wissenschaftsjournalismus, Medienjournalismus, Qualitätssicherung im Journalismus, Redaktions- und Medienmanagement. Sicher auch die Beobachtung des amerikanischen Journalismus, wobei man heute nicht mehr so viel von ihm lernen kann wie in den 1980ern. Ich bin da aber realistisch. Wir leben in einer Zeit, die auf das Jetzt schaut. Was eine Generation davor passiert ist, wird schnell vergessen.
Stephan Russ-Mohl: Die Freiheit der Forschung genießen. In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2021. http://blexkom.halemverlag.de/russ-mohl-interview/ (Datum des Zugriffs).
Der Beitrag Stephan Russ-Mohl: Die Freiheit der Forschung genießen erschien zuerst auf Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft.
]]>Der Beitrag Marianne Lunzer-Lindhausen zum 100. erschien zuerst auf Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft.
]]>Welch ein Ereignis: im hundertsten Lebensjahr die eindrucksvolle Bilanz einer Biografie zu ziehen, die erkennen lässt, dass Marianne Lunzer-Lindhausen eine singuläre Figur unseres Fachs und der – leidvollen – Geschichte von Frauen an der (Wiener) Universität war.
In fünf Merksätzen sei dieser Sachverhalt eingangs resümiert:
Zwei Festschriften haben diese Lebensleistung gewürdigt: 1985, anlässlich ihrer Emeritierung (vgl. Duchkowitsch 1985), dann 1991 zu ihrem 70. Geburtstag (vgl. Duchkowitsch et al. 1991; bei Festschriften eine nicht unübliche Verspätung!); auch das internationale Symposium „Wege zur Kommunikationsgeschichte“ 1986 war als eine Hommage an sie konzipiert (vgl. Bobrowsky/Langenbucher 1987). Und zuletzt fand ihre Rolle im Fach eine einfühlsame Würdigung im Biografischen Lexikon Kommunikationswissenschaft (vgl. Thiele 2015).
Ist damit nicht alles über unsere Kollegin gesagt?
Wohl nein: Je mehr Zeit seit ihren Jahren am Wiener Institut vergeht, umso deutlicher werden die historischen Konturen, die lebensgeschichtlichen Gewichte und Bedeutungen, der lange wissenschaftsgeschichtliche Atem dieses Lebens.
Der Weiterbestand des im Nationalsozialismus gegründeten Instituts war nach Kriegsende verständlicherweise extrem gefährdet. Unbelastet war nur die junge Assistentin, die sich resolut und einfallsreich für das Weiterbestehen des Wiener Instituts einsetzte, die Leitung aber ging an Männer, ausschließlich fachfremde (vgl. Thiele 2015).
Lange stand das Institut so unter kommissarischer Leitung. Erst Ende der 1960er Jahre nahm diese jahrzehntelange kommissarische Verwaltung durch fachfremde Wissenschafter ein Ende. Es war in dieser ganzen Zeit sie, die die Verwaltungsgeschäfte in diesem anhaltenden Provisorium leitete und auch sonst für Kontinuität sorgte.
Als dieser prekäre Zustand endete und sie selbstständig arbeiten konnte, betreute die Publizistikprofessorin 230 Dissertationen (bis in die 1980er Jahre der normale akademische Abschluss) und leistete so einen wesentlichen Beitrag zur Akademisierung des österreichischen Journalismus. Um es genauer zu sagen: Ihre herausragende Leistung war ein früher Beitrag an die berufliche Emanzipation junger Frauen: Die Zahl – zum Teil prominent gewordener – Journalistinnen, die sich als ihre Schülerinnen bekannt haben, ist bemerkenswert groß. Dies war für die Generation der noch nicht sehr zahlreichen weiblichen Studierenden der 60er und 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ein Projekt, das es gegen die damals noch brutal männliche Kultur der Universität erst durchzusetzen galt.
Darin war Marianne Lunzer als Universitätsangehörige eine bewundernswerte Pionierin. Wenn Frauen damals schon diesen akademischen Weg wagten, so wurden ihnen häufig genug alle nur denkbaren Aufstiegsbarrieren in den Weg gelegt. So auch ihr, als sie sich nach ihrer Habilitation 1954 Ende der 60er Jahre um die endlich eingerichtete Wiener Lehrkanzel für Zeitungswissenschaft bewarb; berufen wurde ein Kollege, an dessen – gar besseren – Eignung erhebliche Zweifel bestanden, die sich schon in seinem holprigen, sechs Jahre dauernden Weg zur Habilitation zeigten. Aber: Er war ein Mann. Beworben hatte sich auch noch der frühere Institutsvorstand; beide hatten der NSDAP angehört.
Von dieser Blockade der ihr eigentlich zustehenden Karriere ließ sich Frau Lunzer aber nicht in die Resignation treiben, sondern wurde unbestritten zum professoralen Mittelpunkt des langsam größer werdenden Instituts und schließlich für einige Jahre zur einflussreichen Vorständin, die damit die Grundlagen für ein beispielloses Wachstum des Instituts in den vergangenen Jahrzehnten schuf, bis zu einem der größten im Fach.
Was das universitätsgeschichtlich bedeutet, mag an der Geschichte der Universität deutlich werden: Forschende und lehrende Frauen sind bis tief ins 20. Jahrhundert eine rare Ausnahme. Ihren Platz in den Wissenschaften mussten Frauen sich erst mühsam erobern, um den damaligen Talibanen zu beweisen, dass es Männern zumutbar sei, von einer Frau unterrichtet zu werden.
In Stichworten: Die erste Habilitation erfolgte 1907, durch die Romanistin Elise Richter; bis 1938 folgten zwölf weitere Habilitationen von Wissenschaftlerinnen. Nach dem Anschluss 1938 endete diese Epoche – für Elise Richter mit der Ermordung in Theresienstadt, andere gingen in die Emigration oder mussten die Universität verlassen.
Zurück nach diesem traurigen Exkurs zu Notizen über die Arbeitsgebiete von Marianne Lunzer. Sie wurde durch das Fach zur Historikerin und wählte als einen ihrer Schwerpunkte die Parteipresse, und machte das Thema mit ihren Dissertantinnen und Dissertanten zum Gegenstand systematischer Forschungen.
Eine Überblicksdarstellung aus diesem Material würde sich gerade heute lohnen. Obwohl dieses Phänomen nach 1945 sukzessive vom Markt verschwand, weil eine ganz andere Idee von „Zeitung“, an den Idealen der Universalität und Objektivität orientiert, sich auch in Österreich durchsetzte, aber sich nun in der Internetwelt eine Renaissance anbahnte, und Lunzer so – gewiss ohne es zu ahnen – einer erstaunlichen Modernität auf der Spur war. Wie ihre Forschungen über die Erste Republik lehren, war die parteigebundene Presse der Demokratie nicht eben förderlich. Was sich heute im Netz abspielt, gilt – entgegen dem anfänglichen Glauben an ein völlig neues Demokratiepotenzial – in der immer vernehmlicher werdenden Kulturkritik als essenzielle Gefahr für die Demokratie. Die Präsidentschaft von Trump war dafür das furchterregende Ereignis. International bedienen sich der nationalistische Rechtsradikalismus und der antidemokratische Populismus besonders intensiv dieser neuen Kommunikationstechniken, um den klassischen Journalismus durch Fake, Lüge und Propaganda zu ersetzen.
„100“ Jahre – welch eine Zeitspanne. Hoffentlich war sie so wenig wie möglich beschwerlich, fürsorglich begleitet von Angehörigen, nicht zuletzt der Enkelin Katja Orter, die ja auch an „ihrem“ Institut studiert und promoviert hat. Uns allen bleibt, zu danken, dass wir die Weggefährten einer bewundernswerten Kollegin sein durften.
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]]>Wolfram Peiser saß in der Oettingenstraße neben mir, Tür an Tür sozusagen. In den letzten Jahren hat sich dort der Nachwuchs die Klinke in die Hand gegeben. Ich weiß gar nicht mehr, wer diesen Lehrstuhl alles vertreten hat. In der Leitungssitzung haben wir jedes Semester von Neuem gehofft, dass der geschätzte Kollege bald zurückkehrt, für ihn und mindestens genauso sehr für uns. Die erste Krebsattacke haben die allermeisten gar nicht mitbekommen. Eine Infektion, nicht ganz auskuriert, hieß es ziemlich vage. Man sah in Wolframs Augen und in seinem Gesicht, dass da mehr gewesen sein musste, aber er war nicht so, dass man gleich nach solchen Dingen fragte.
Später haben wir oft über die Krankheit gesprochen. Wenn er sich gut fühlte, spazierte er aus seiner Wohnung durch den Englischen Garten ins Institut und schaute einfach, wer gerade da war. Wolfram ist mit dem Krebs nicht viel anders umgegangen als mit jeder anderen Aufgabe im Leben. Egal ob Möbelkauf, Seminarvorbereitung, Antrittsvorlesung oder Betreuung der Studierenden: Er musste alles gelesen und durchdacht haben, bevor er eine Entscheidung traf. Früher hatten wir über Theorien diskutiert, über irgendeinen Aufsatz oder eine Projektidee. Jetzt ging es um Therapien, Nebenwirkungen, Heilungswahrscheinlichkeiten – genauso fundiert und genauso differenziert wie sonst auch. Selbst da, wo es ihn ganz persönlich betraf, blieb Wolfram in der Beobachterrolle. Ich habe gelernt, was der Krebs aus dem Alltag machen kann. Wie das ist, wenn man Möhren oder Zwiebeln schneiden will und nicht merkt, wenn das nicht klappt, weil in den Fingern kein Gefühl mehr ist. Warum man Möhren nicht mehr sehen kann, wenn das Gift auch den Geschmack tötet, und eigentlich nur noch Junkfood runterbekommt, obwohl die Ärzte sagen, dass es auch um die Ernährung geht. Wie der Krebs den Schlaf zerstört.
Wolfram Peiser war einer der ersten Kommunikationswissenschaftler, die ich außerhalb des kleinen Kreises traf, in dem ich mich in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre als Habil-Stipendiat in Leipzig bewegte. Wahrscheinlich täuscht die Erinnerung, aber heute glaube ich, dass Wolfram immer da war, wenn ich zu einer Tagung fuhr. Das heißt: Er hat vorgetragen, und ich saß im Publikum. Mit seiner Dissertation über die „Fernsehgeneration“ war er mir einen Schritt voraus, mindestens (vgl. Peiser 1996). Ich arbeitete gerade zur Mediennutzung in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten und wollte die Langzeitstudie Massenkommunikation gewissermaßen rückwärts schreiben. In Kurzform: in den Archiven Daten finden, die das ergänzen, was die Medienforschung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ab 1964 institutionalisiert hat, und so herausarbeiten, wie das Fernsehen das Leben der Deutschen in Ost und West verändert hatte (vgl. Meyen 2001). Wolfram nutzte die Datensätze, die es schon gab, und setzte damit neue Standards bei dem Thema, das mich gerade umtrieb: Wie hängen Massenmedien und sozialer Wandel zusammen? Konkreter: Was macht ein neuer Kanal mit der Gesellschaft?
Ein „Schritt voraus“ ist hier keineswegs nur zeitlich gemeint oder gar Koketterie. Wolfram Peiser war damals auf dem Sprung an die Spitze der Disziplin. 1998 hat er bei der Jahrestagung der DGPuK in Mainz im wichtigsten Panel gesprochen – da, wo sich die gesamte Fachgesellschaft versammelte. Es gab seinerzeit noch kein Reviewverfahren. Das Dreifach-Panel zum Tagungsthema hatten Friedrich Krotz und Arnulf Kutsch organisiert. Ob man einen Vortragsslot bekam, hing von der eigenen Reputation ab und davon, ob man auf dem Zettel der Verantwortlichen stand. Gesprochen haben dort zum Beispiel Elisabeth Noelle-Neumann oder Hans Mathias Kepplinger – und Wolfram Peiser, frisch promoviert. In dem BlexKom-Eintrag zu seiner Person findet man einige der Aufsätze, die in dieser Zeit entstanden sind – datenanalytisch auf der Höhe der Zeit und an Orten publiziert, die für die deutschsprachige Medienforschung erst viel später zur Normalität werden sollten.
Geholfen hat ihm dabei sicher die Anbindung an die Mainzer Schule und hier vor allem an Klaus Schönbach, der die Dissertation betreut hat, und an Christina Holtz-Bacha, die später seine Chefin war. Beide verkörperten schon damals Internationalität. Was heute fast schon Grundvoraussetzung für eine Professur ist (eine kumulative Habilitation, gestützt auf Veröffentlichungen in hochrangigen Fachzeitschriften), hob Wolfram Peiser aus dem Bewerberfeld heraus, das sich ab 2004 um den neuen Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft mit den Schwerpunkten Kommunikationstheorien, Mediensysteme und Kommunikationspolitik an der Universität München bemühte. Als studierter Wirtschaftswissenschaftler (1984 bis 1990 in Wuppertal) konnte er nicht nur alle Lücken füllen, die Heinz-Werner Stuiber mit seiner Pensionierung hinterließ, sondern auch gleich noch die Vorlesung „Medienökonomie“ übernehmen.
Dienstantritt war am 1. Januar 2006. Vorher hat Wolfram den Lehrstuhl dreieinhalb Semester lang vertreten. Wir sind damals oft zusammen essen gegangen, auch weil ich nicht genug bekommen konnte von der Belesenheit und den Tipps des neuen Kollegen. Später hat das etwas nachgelassen. Wolfram hat noch einige Texte veröffentlicht, die zentrale Fragen der Kommunikationswissenschaft ganz grundsätzlich angehen und so bis heute Bestand haben, darunter seine Münchner Antrittsvorlesung zum Rieplschen Gesetz (Peiser 2008) und eine Meta-Betrachtung zur Methodenorientierung im Fach (Peiser 2011). Bei vielen Themen aber schienen seine Akribie und die Zweifel, die ganz zwangsläufig zu jeder Studie gehören, die Produktivität eher zu lähmen. Vermutlich wollte ich mich davon nicht anstecken lassen.
Dem Institut kam das Arbeitsethos von Wolfram Peiser in jeder Hinsicht zugute. Er hat viele Jahre den Prüfungsausschuss im Masterstudiengang Kommunikationswissenschaft geleitet, dort ein Eignungsfeststellungsverfahren aufgesetzt, das seinesgleichen suchen dürfte, und strittige Fälle (egal ob bei der Bewerbung oder später bei der Bewertung) so umsichtig gelöst, dass nichts zurückbleiben konnte. Wer bei ihm im Seminar saß, eine Abschlussarbeit schrieb oder gar promovierte wie Sven Engesser, Philipp Müller und Benjamin Krämer, hat von einem unglaublichen Wissensschatz und seinen Erfahrungen als empirischer Forscher profitieren dürfen. Man muss dazu nur in den drei gerade genannten Dissertationen blättern.
Ich weiß, dass das abgedroschen klingt, schreibe diesen Satz aber trotzdem, weil er auf Wolfram Peiser tatsächlich zutrifft: Die Kommunikationswissenschaft war sein Leben. Zurück ins Büro, zurück in die Lehre, zurück zu seinen Leuten: Das war das, was ihn in den Jahren der Krankheit am Leben gehalten hat. Mit jedem neuen Semester, das der Therapieplan schluckte, wurde das Fenster bis zur Pensionierung kleiner und damit auch die Hoffnung, dass dieser Wunsch in Erfüllung gehen wird. Vor ein paar Wochen schrieb er, dass wir Ersatz suchen sollen für die Fachmentorate in den Habilitationsverfahren von Cornelia Wallner und Thomas Wiedemann. Da wusste ich, dass ich bald einen Nachruf schreiben muss.
Michael Meyen: Wolfram Peiser (1962 bis 2021). In: Michael Meyen/Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2021. http://blexkom.halemverlag.de/nachruf-peiser/ (Datum des Zugriffs).
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